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Aufbauen statt zerstören
Wie Arvo Pärt zu seiner Musik fand
23.09.2025 06:35
Musik komponieren in der Sowjetunion. Das war riskant. Musik konnte als staatsgefährdend gelten. Arvo Pärt aus Estland hat lange gebraucht, bis er seine Musik gefunden hat. Ein Vers aus der Bergpredigt hat ihn ermutigt.
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Im letzten Sommer habe ich den Komponisten Arvo Pärt und seine Musik tiefer entdeckt. Auf einer Reise durch seine Heimat Estland. Vor kurzem ist er 90 Jahre alt geworden.

Ein Kind des 20. Jahrhunderts, gezeichnet von Krieg, Armut, von Deportationen vieler Menschen aus Estland nach Sibirien. Von klein auf ist Musik seine Zuflucht. Er arbeitet in Tallinn beim Rundfunk und hat alles zur Verfügung – die besten technischen Geräte, die im damaligen Ostblock verfügbar sind, eine tolle Ausbildung. Er macht und vor allem schreibt er selbst Musik. In der Sowjetunion ein gewagtes Unterfangen, denn alles konnte als subversiv gelten, staatsgefährdend.

Arvo Pärt wird ein erfolgreicher Filmmusik-Komponist. Er nimmt sich die Form der Zwölftonmusik vor, in der sich alles immer wieder in Auflösung befindet. Er macht das lange und erfolgreich. Aber es bringt ihn innerlich an eine Grenze. So will er nicht weitermachen. Dann probiert er aus, die alte Musik, Johann Sebastian Bach vor allem, zu studieren und Zitate daraus neu zusammenzufügen. Musik-Collagen. Aber auch das ist noch nicht das, was er sucht. Sackgasse. Nichts geht weiter.

Dann gerät Pärt zufällig in einen Plattenladen und bekommt Sekunden einen gregorianischen Choral zu hören. Eine Welt, die er noch nicht kennt – nur eine Stimme, keine Harmonie, kein Orchester. Eine nackte, vollkommen reduzierte Melodie. Das packt ihn. Und so beginnt seine lange Reise zu einer ganz neuen Musikfarbe. Es ist eine schmerzhafte und entbehrungsreiche Zeit, die er durchmacht. Er hört ganz auf, Stücke zu komponieren. Er hört ganz auf, Musik zu machen.

Am Anfang steht dieses Stückchen Gregorianik und dann die Begegnung mit einem Satz aus der Bergpredigt von Jesus: "Ich sage euch, dass ihr nicht widerstehen sollt dem Übel." (Matthäus 5,39) Arvo Pärt versteht das als Aufgabe, nicht mit der Welt zu kämpfen, dies oder jenes zu verurteilen. Der Sinn jeder Handlung sei, aufzubauen statt zu zerstören.

Das sucht er zu leben und auszudrücken mit seiner Musik, mit ganz anderen Klängen. Jahrelang schreibt er nur Melodien zu Psalm-Versen, jeden Tag. Er schaut den Vögeln am Himmel zu und imitiert in der Melodie ihre Flugformation. Er betrachtet Fotos von Bergen, hört auf den Gesang der Birken und Kiefern, wenn der Wind durch die Wipfel fährt. Von ihnen will er einen neuen Klang erlauschen. Doch der zeigt sich nicht. Und es ist nicht klar, ob er diese verzweifelte Suche überlebt.

An einem Sonntag, seine Frau Nora hat vorgeschlagen, zur Abwechslung einen Waldspaziergang zu machen, setzt Arvo Pärt sich noch mal hin, und es passiert. Nach fast acht Jahren kommt der Arvo Pärt-Klang zu ihm und zur Welt. Eine Melodie getragen von einer zweiten tieferen Stimme, das ist eines ihrer Kennzeichen. Der persönliche Weg und die ewige Wahrheit. Das Subjektive und das Objektive. Die Sünde getragen von der Gnade – so könne man beschreiben, was hier zu hören ist, sagt er. Und auch: Zum Schweben braucht man zwei Flügel. 

An einem Abend im Oktober 1980 klingelt ein Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei an der Haustür des Komponisten in Tallinn. Er legt Arvo und Nora Pärt nahe, das Land umgehend zu verlassen. Ansonsten würden harte Repressalien folgen. Diese klare Musik ist zu subversiv für das System. Die Pärts steigen zwei Wochen nach diesem Besuch in einen Zug nach Wien, mit zwei Koffern und einem kleinen Kind im Arm. Und mit ihnen reist Arvo Pärts Musik. Mitten in der Welt des Übels macht sie die Welt des Friedens und der Liebe groß.

Es gilt das gesprochene Wort.

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