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35.000 junge Leute machen jedes Jahr ein Freiwilliges Soziales Jahr. In Deutschland, viele auch im Ausland, zum Beispiel in Israel. Mit der Aktion Sühnezeichen, oder auch mit „Dienste in Israel“. „Hagoshrim“ wird die Organisation in Israel genannt, übersetzt: die „Brückenbauer“.
Seit 1975 kommen jedes Jahr ca. 40 Brückenbauer ins Land. Zwei davon sind Lisa und Lukas.
Lisa: Ich bin Lisa. Im letzten Sommer habe ich Abitur gemacht und seit 4 Monaten lebe ich jetzt in Israel. Statt die ganze Zeit Bücher lesen und Themen diskutieren, heißt es jetzt für mich Windeln wechseln und alte Leute füttern. Ich bin Volontärin in einem Altenheim in Petach Tikva in der Nähe von Tel Aviv.
Lukas: Ich bin Lukas, 19 Jahre und kümmere mich in einem Krankenhaus in Jerusalem um schwerstbehinderte Menschen. Für sie bin ich die Hände, die sie nicht bewegen können.
Was motiviert junge Leute, zwischen Abitur und Studium, zwischen Lehre und Job für ein Freiwilliges Soziales Jahr in die weite Welt zu ziehen, zum Beispiel nach Israel? Wohl genau dies: Neues entdecken. Zeit schenken. Menschen helfen.
Lukas: Ich freu ich besonders auf die Israelis, eine neue Kultur kennenzulernen, die neue Sprache, die wir gerade gelernt haben...
Ein intensiver Vorbereitungskurs in Deutschland gehört dazu, bevor die Volontäre ausreisen ins fremde Land. Da können sie auch in die fremde Sprache hineinschnuppern:
Sprachlehrer: Das Ziel ist nicht unbedingt, nur die hebräische Sprache beizubringen, eher was zu erzählen, die Leute was beizubringen, was die Mentalität in Israel betrifft, wie man mit die Leute umgeht, was wird in Israel praktisch praktiziert...
Und dann heißt es für die jungen Leute, dicke Rucksäcke packen, Abschied nehmen von Eltern und Freunden und aufbrechen in eine andere Welt.
Früher arbeiteten die Volontäre oft in Kibbuzim. Heute in Behinderten- und Altenheimen. Sie leben in Wohngruppen mit autistischen Jugendlichen zusammen. Oder gehen mit Menschen die letzte Wegstrecke des Lebens in einem Hospiz.
Dov Ehrlich, seit vielen Jahren Volontärsbetreuer in einem Behindertenheim in Jerusalem, freut sich immer, wenn wieder eine Gruppe von Volontären ankommt:
Mit Hagoshrim haben wir einen andauernden und stabilen Kontakt. Eine Gruppe geht, die nächste kommt. Es ist keine leichte Arbeit, nicht immer angenehm und sauber. Doch da kommen junge Menschen aus dem Ausland extra zu uns, um uns zu pflegen. So empfinden die Bewohner. Sie schätzen die Volontäre und ihre Arbeit sehr, lieben sie, und ich fühle das gleiche.
Das Leben als Volontär in Israel ist kein Zuckerschlecken! Die Unterbringung ist einfach, der Dienstplan streng, die Arbeit stressig, die andere Kultur eine Herausforderung. Brückenbauen braucht Zeit: aufeinander zugehen, genau hinhören, miteinander lernen. So können Gräben überwunden werden, Vertrauen und Zuneigung wachsen. Das erleben die Volontäre:
Lisa zum Beispiel arbeitet auf eine Dementenstation...
Lisa: ...und da ist die Schwierigkeit, dass ich oft nicht sehe, was ankommt und was nicht ankommt. Und dann frage ich mich manchmal, warum ich jetzt mitgeholfen hab und da war, aber dann gibt es auch wieder Tage und Momente, wo ich einfach weiß, dass ich am richtigen Ort bin, zum Beispiel wenn jemand meine Hand berührt oder ein alte Frau sagt: „Bist a schöne Mädele ..“ – auf Jiddisch, wie die meisten auch sprechen.
Lukas: Am Anfang war es sehr hart für mich und ich war auch sehr unsicher, ich musste mit ansehen, wie er z.B. hier am Beatmungsgerät manchmal einen Katheter gesetzt bekommt und dann Schleim abgesaugt bekommt, das ist schon sehr hart, am Anfang, aber man gewöhnt sich dran. Und mittlerweile haben wir zusammen sehr viel Spaß und lachen zusammen und das ist für mich eine ganz besondere Erfahrung.
Da war der gebrechliche Chaim Grachnik im Rollstuhl. Eine junge Volontärin reicht ihm eine Tasse Tee und kniet sich an seine Seite. Sie bittet ihn zu erzählen, wie das war – in Auschwitz und in Birkenau. Und stockend erzählt der alte Mann vom unsagbaren Leid, das ihm widerfahren war. Sucht nach Worten. Auf Deutsch. Dann rollt er seinen Hemdärmel auf und zeigt seine KZ-Nummer. Deutlich sichtbar. Auch nach über 70 Jahren. Aber auch davon spricht er: Dass gewesen ist, was gewesen ist. Dass wir nach vorne schauen müssen. Ein Lächeln huscht dabei über sein Gesicht. Die junge Deutsche lächelt zurück.
Chaim Atiya, Direktor von mehreren Altenheimen in Israel, beschreibt, welche Auswirkung die Arbeit der jungen Deutschen für die Menschen in seinem Land haben kann:
Wir wissen, dass es auch in der zweiten und dritten Generation Angehörige von Holocaustüberlebenden gibt, die überhaupt keinen Kontakt zu Deutschen wollen. Wenn sie hier in der Einrichtung auf die Volontäre treffen, entsteht der Kontakt nicht aufgrund bewusster Entscheidung. Erst nach dem Kennenlernen fangen sie plötzlich an, zu begreifen, dass sie Kontakt zu einem jungen Menschen aus Deutschland gewonnen haben. Sie haben eine Blockade überwunden, mit der sie ihr Leben gelebt hatten. Das zieht Kreise in ihrer Umgebung. Und es gibt Hoffnung für die Zukunft.
Damit Blockaden überwunden werden und Hoffnung für die Zukunft wachsen kann, muss die Vergangenheit bewusst in den Blick genommen werden. Das tun die FSJler in Israel. Ein Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem gehört für sie unbedingt dazu.
Lisa: Also, man hat sich ja schon in Deutschland mit dem Thema befasst, Holocaust, in der Schule, ganz oft wurde das Thema behandelt. Aber hier in Israel war es nochmal was ganz anderes. Und eine Situation war total prägsam für mich:
Da hab ich einen Vater gesehen, der seinem 10-jährigen Sohn – ungefähr – Bilder erklärt hat, was den Juden angetan wurde und dabei mussten beide weinen und die haben die ganze Zeit einfach nur geweint. Das hat mich so berührt.
Solche Erlebnisse prägen sich tief ein bei den Brückenbauern. Wie überhaupt der Aufenthalt in Israel – diesem wunderbar schönen, geschichtsträchtigen, und so zerrissenen Land.
Die Volontäre sehen beim Busfahren Soldaten mit Maschinengewehr über der Schulter.
Sie, in Jeans und T-Shirt, treffen auf Gleichaltrige in Uniform, die ihren Militärdienst ableisten.
Sie, die die Mauer quer durch Deutschland nicht mehr kennen, erleben nun Mauern und Grenzzäune quer durch Israel.
Sie müssen lange Grenzkontrollen über sich ergehen lassen, wenn sie z.B. mal nach Bethlehem wollen.
Sie werden von jüdischen Familien zum Schabbatessen eingeladen. Und hören von ihren arabischen Arbeitskollegen aus Ostjerusalem oder der Westbank, wie schwierig es für sie ist, wegen der Grenzkontrollen pünktlich zu Arbeit zu kommen, wie sie sich benachteiligt und schikaniert fühlen.
Die Volontäre, die gekommen sind, um Brücken der Versöhnung zu bauen, erleben im modernen Israel Gräben aus Misstrauen und Mauern aus Feindseligkeit. Die jungen Deutschen spüren Bedrohung und Krieg. Es gab und gibt immer wieder Zeiten, da muss die Organisation abwägen, ihre Leute nach Deutschland zurückzuholen. Aus Sicherheitsgründen.
Insofern trifft auch auf die Volontäre zu, was 2015 eine Studie der Bertelsmann Stiftung herausgefunden hat: Viele Deutsche, gerade auch junge Leute zwischen 18 und 29, blicken zunehmend kritisch auf den Staat Israel und seine Politik. Zu unterschiedlich ist, was beide Seiten aus der Geschichte gelernt haben: die Deutschen die Maxime „Nie wieder Krieg!“, die Israelis „Nie wieder Opfer!“
In diesem Spannungsfeld, zwischen vielen sich widersprechenden Eindrücken und aufrüttelnden Erfahrungen, bewegen sich die jungen Leute, die in Israel Freiwilligendienst leisten. In einer Lebensphase, wo auch sie selbst im Umbruch sind und nach Orientierung suchen: Was denke und glaube ich? Wer bin ich und wer will ich sein?
Da ist es gut, dass „Hagoshrim“ die Volontäre intensiv vor Ort begleitet. Durch Vortragsveranstaltungen und Diskussionen im kleinen und großen Kreis, durch Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen, mit orthodoxen Juden und christlichen Arabern, mit frommen Christen und kritischen Journalisten.
Brücken der Versöhnung bauen – das ist wirklich eine Herausforderung in diesem von Unfrieden und Misstrauen zerrissenen Land! Aber wer es versucht, kann Überraschungen erleben und Veränderung spüren, nicht nur an sich selbst:
So geht es jedenfalls Lisa und Lukas.
Lisa hat sich gewöhnt an die Arbeit auf der Dementenstation. Sie macht ihr sogar richtig Spaß.
Manchmal ist sie selbst von sich überrascht. Dass sie so sicher werden kann im Umgang mit
alten Menschen, das hätte sie vorher nicht gedacht.
Und auch Lukas genießt die Zeit in Israel. Zuverlässig kümmert er sich um seinen schwerstbehinderten Patienten. Und er erlebt überraschende Begegnungen. Zum Beispiel die:
Zusammen mit anderen Volontären schaute er sich in einer Pizzeria die Übertragung eines Fußballländerspiels an. Da waren auch orthodoxe Juden und die fieberten heftig mit – mit den Deutschen...
Ja, vielleicht wird das tatsächlich schon zur kleinen Versöhnungsbrücke – wenn zufällig junge Deutsche und junge Israelis in einer Kneipe beim Fußballgucken aufeinander treffen und sich verstehen… irgendwie…
Versöhnung – sie beginnt oft ganz alltäglich. Und manchmal auch etwas verrückt.
Dafür steht der langjährige Weg-Begleiter und wichtigste Mentor von Hagoshrim: Schalom Ben Chorin. Als Jude und Deutscher konnte er gerade noch rechtzeitig aus Nazideutschland fliehen in das Land seiner Sehnsucht, nach Israel-Palästina. Krieg überall, Vernichtung seines Volkes. Gelähmt von Entsetzen, hilflos untätig sitzt Schalom Ben Chorin im März 1942 in seinem Zimmer und schaut aus dem Fenster. Noch ist alles kahl und abgestorben, aber der Mandelbaum im Garten blüht schon – zart weiß-rosa. Da schreibt Ben Chorin ein Gedicht. „Vielleicht war das ein bisschen meschugge, verrückt“, erzählte er später, „aber dieser blühende Mandelzweig, der wurde mir zum Zeichen in dieser furchtbaren Zeit. Er machte mir Hoffnung! Winter und Kälte, Hass und Krieg und Tod haben nicht das letzte Wort. Die Liebe bleibt und das Leben wird siegen!“
So wurde Schalom Ben Chorin schon sehr bald nach dem Krieg, bis zu seinem Tod im Jahr 1999, zum unermüdlichen Brückenbauer – zwischen zwischen Israelis und Deutschen, Juden und Christen. Unzähligen jungen und alten Menschen hat er sein Vermächtnis weitergegeben:
Schalom Ben Chorin: Unwissenheit erzeugt Misstrauen. Misstrauen erzeugt Hass. Hass erzeugt Gewalttat. Wir müssen daher diese verhängnisvolle Kette am untersten Gied abbauen, bei der Unwisssenheit. Die Christen müssen mehr vom Judentum wissen. Und ich meine, auch die Juden müssen mehr vom Christentum wissen. Dann werden wir erkennen, dass wir zwar vieles Trennende haben, aber noch viel mehr Gemeinsames. Und ich meine, die Christen sollten sich dann an das Wort des Apostels erinnern, der sagt: So überhebe dich nicht. Denn die Wurzel trägt dich, nicht du trägst die Wurzel. Und diese Wurzel des Christentums ist das Judentum.“
Wenn Lisa und Lukas und die vielen jungen Leute, die irgendwo in der weiten Welt einen Freiwilligendienst machen, wieder zuhause sind, dann haben sie Unwissenheit abgebaut.
Sie bringen einen dicken Rucksack mit zurück – vollgepackt mit spannenden Erlebnissen, bewegenden Erfahrungen und verrückten Geschichten.
Wie schön, wenn sie auch Mandelzweig-Hoffnung mitbringen! Hoffnung für die Eine Welt, die an so vielen Orten auf Brückenbauer wartet: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt...“