Knopfdruck. Die Nadel läuft in die Tonspur, Rauschen. Sanft steigen die Orgeltöne an, malen eine Landschaft. Ich schließe die Augen. Dann flirrt das ätherische Gitarrenspiel hinein, reißt den Himmel und eröffnet den schwebenden Sound von „The Joshua Tree“.
Seit genau 35 Jahren gehört das U2-Album zu meiner Plattensammlung. Keines habe ich so oft aufgelegt. Keines hat mich als junger Mensch so beeinflusst: wie ich mich kleide, wofür ich mich engagiere, woran ich glauben kann…
„The Joshua Tree“ hat ein samtig-dunkles Cover. Darauf ein Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigt weites Land, die Band in priesterlichem Schwarz, lange Mäntel. Auf der Rückseite die Aufnahme mit dem Josua-Baum. Albumname und Songtitel sind in Golddruck eingeprägt, wie bei einer dieser alten Bibeln.
In den Liedern geht es und Glauben und Zweifel, Menschen auf der Suche. Nach Liebe, Erfolg, Gott. So wie in „I Still Haven’t Found What I’m Looking For | Ich habe noch nicht gefunden, wonach ich suche“…
„Ich habe die höchsten Berge erklommen, bin durch Felder gerannt, nur um bei dir zu sein…“ Die Sprache dieser Ballade ist die Sprache der Psalmen, des Hohelieds, der paulinischen Briefe. Auch das Kreuz kommt vor, Schuld und Sühne. Alles gipfelt in der wiederkehrenden Klage: „Ich habe noch nicht gefunden, wonach ich suche.“
Solche Texte sprechen mich damals an. 1987, als „The Joshua Tree“ in die Plattenläden kommt, werde ich 18 Jahre alt. Mein Glaube ist in Unruhe. Vielleicht ist er auch gar nicht mehr da. Ich bin auf der Suche. Nach mir selbst, der großen Liebe, was hält diese Welt zusammen?
In den Liedern des „Joshua Tree“-Albums finde ich meine Fragen wieder. Und der Sänger von U2, Bono, wird für mich zu einer Identifikationsfigur ...
„Sieh, der Stein in deinem Auge; sieh, der Dorn sticht in deine Seite ...“ Zeilen aus einem der größten Hits von U2, der Nummer Drei auf „The Joshua Tree“: „With or Without You | Nicht mit dir, nicht ohne dich“.
Der Text stammt von Bono Vox. Er wird 1960 in Dublin als Paul Hewson geboren, wächst in einem katholisch-protestantischen Elternhaus auf. Als er 14 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Ihren Tod verarbeitet Bono in vielen Liedern. Den Spitznamen geben ihm Freunde. Bono Vox, die gute Stimme. Einer, der sich engagiert: für Menschenrechte, gegen Krieg und Hunger.
Die Liedtexte spiegeln seinen Glauben, seine Zweifel, sein Sehnen. In Videos, auf Konzerten trägt er gut sichtbar eine Halskette mit Kreuz. Als 18-Jähriger will ich so sein wie er. Imitatio Bono. Ich ahme Blick und Gesten nach, lasse meine Haare wachsen. Schulterlang. Den dunklen Mantel finde ich im Klamottenfundus meines Vaters. Dazu schwarze Jeans, Cowboystiefel. Eine Freundin gibt mir Gitarrenunterricht. Ich probe Akkorde, spiele wieder und wieder markante Melodiefolgen in die Leere meines Zimmers ...
Alle U2-Alben bis zu „The Joshua Tree“ enthalten geistliche Lieder. „In the Name of Love” auf der LP “The Unforgettable Fire” würdigt Jesus, der Song “MLK” Martin Luther King. Die Platte „October“ hat mit „Gloria“ einen Rocksong, dessen Refrain aus lateinischen Gebetsversen besteht. Und das Album „War“ klingt mit einer Vertonung von Psalm 40 aus: „40 (fourty)“. Abgesehen von Bassist Adam Clayton beschäftigen sich alle Bandmitglieder mit religiösen Fragen. Schlagzeuger Larry Mullen, Gitarrist The Edge und der Sänger Bono Vox gehören sogar für eine Zeit gemeinsam einer freikirchlichen Gemeinde an.
Mit 18 besuche ich ebenfalls regelmäßig die Gottesdienste in einer Freikirche. Sie wird eine Station während meiner Suche. Gibt es diesen Schöpfer tatsächlich, von dem die Bibel erzählt? Lange Jahre ist das für mich keine Frage gewesen, sondern Gewissheit.
Doch mit 18, an einem sonnig-warmen Juni-Tag verliere ich diesen Glauben. Da schaue ich den Wolken hinterher, versuche Unendlichkeit zu buchstabieren. Aber mein kleines Herz kann sie nicht fassen. ‚Ewig sein‘ klingt mit einem Mal grausam, als würde sich das Ich in der Zeitlosigkeit auflösen. Eine Erschütterung, die mir den Boden unter den Füßen wegreißt. Ich leide, als hätte ich Liebeskummer. Ich streife nachts durch Bars und Cafés, suche Trost bei Freunden. Ich male Bilder, einsame Landschaften, darin Figuren ohne Eigenschaften. Und wieder und wieder lege ich diese Platte auf, wiege mich in den Liedern von U2. Und ich bete, bitte um Zeichen.
Dieses Sehnen und Fragen bringt mich zur Theologie. Nach dem Abitur schreibe ich mich in Hamburg ein. Gleich im ersten Semester lese ich einen Aufsatz, der mich begleiten wird wie das U2-Album vom Josua-Baum. Es ist ein Text aus den 1920er Jahren. Frakturschrift, die Kopie auf rauem, eierschalenfarbenem Papier. Darin heißt es: Gott kommt nicht in Antworten zu uns. Er begegnet uns als Frage. „Die Frage ist die Antwort (S.114).“*
Erst kann ich mit diesem Gedanken wenig anfangen. Doch er nistet sich in meinem Herzen ein. Und ich lerne im Lauf des Studiums, dass Glaube vom Fragenstellen lebt. Also: das in Worte zu fassen, was mich umtreibt. Auf Papier in Gedichten und Seminararbeiten, bei Gesprächen in den rauchverhangenen WG-Küchen dieser Jahre, zwischen Rotweinküssen und Zigaretten.
Ein mühsamer Weg über Jahre. Ein Schritt vor, drei zurück, als würde ich mich in einem nachtdunklen Raum vorantasten. Aber ein Weg, auf dem ich so viele Worte entdecke und Gedichte und Texte, die über die Auseinandersetzung zu meinen Worten werden.
Wie diese Lieder auf „The Joshua Tree“ von U2, wie dieser Aufsatz über die Frage als Antwort, dazu Verse von Paulus über das Geheimnis Gottes. „Nicht, dass ich’s
schon ergriffen habe; ich jage ihm aber nach (Phil 3,12i.A.).“
„Schlaf kommt wie eine Droge, traurige Augen, schiefe Kreuze im Reich Gottes.“ God‘s Country – eine Umschreibung für die Vereinigten Staaten. Hier lassen sich U2 für das „Joshua Tree“-Album inspirieren. Sie treffen Bob Dylan, besuchen die Gospelgottesdienste in Harlem, nehmen den erdigen Sound der schwarzen Bluesmusiker auf. Doch die Band ist nicht nur fasziniert von den USA, sie sind genauso erschrocken. Über die Kluft zwischen Stadt und Land, den Rassismus und die US-Außenpolitik. Zu hören in „Bullet the Blue Sky“, der Bomben-verhangene Himmel. Das Lied kritisiert, wie Agenten der CIA in den 1980er Jahren die Diktatoren in Mittelamerika mit Waffen und Dollars unterstützen. Die Gitarre, gespielt von The Edge, zerrt wie ein Kampfjet aus den Boxen …
In den Vereinigten Staaten entstehen auch die ikonischen Aufnahmen für „The Joshua Tree“.** Anton Corbijn macht sie. Er porträtiert die ganz Großen der Mode und des Musikgeschäfts. Topmodel Helena Christensen, Depeche Mode und Herbert Grönemeyer. Der Fotograf stammt aus den Niederlanden, ist Sohn eines reformierten Pfarrers.*** Anton Corbijn begleitet U2 seit 1982. Seine Bilder werden weltberühmt, kommen in Museen, in teure Folianten oder als Poster in die Zimmer der Fans. Ich habe damals Glück. Das Plattengeschäft schenkt mir das überdimensionale Werbeplakat für das „Joshua Tree“-Album. Drei Meter breit.
Es zeigt die Band vor dem Josua-Baum. Seine Blätter laufen schuppenartig über den Stamm, spreizen sich am Ende der Äste wie Finger. Sie wirken wie hilfesuchende, ausgebreitete Arme. Amerikanische Siedler sollen dem Baum seinen Namen gegeben haben. Es heißt, er habe sie an Josua erinnert, der die Israeliten ans Ziel ihrer Suche geführt hat: ins Gelobte Land. Zudem ist „Joshua“ die hebräische Variante von Jesus, den U2 in manchen Liedern würdigen …
Das legendäre Bild von U2 vor dem Josua-Baum entsteht in der Mojave-Wüste, rund 200 Kilometer von Las Vegas entfernt, wo das Video für „Still Haven’t Found“ gedreht wird. Fans lokalisieren über die Fotos seinen Standort, machen ihn zur Pilgerstätte. Im Jahr 2000 stirbt der Baum. Heute erinnert eine Bronzetafel an ihn. „Have you found what you are looking for?“, steht darauf. „Hast Du gefunden, wonach du gesucht hast?“ …
Meinen unerschütterlichen Kinderglauben habe ich nicht wiedergefunden. Gott entzieht sich allen Beweisen, er hüllt sich ins Geheimnis, wie Paulus das mal gesagt hat. „In ihm leben, weben und sind wir (Apg 17,27).“
Aber manchmal lässt Gott sich spüren. Ich erlebe das in der Natur. Beim Segeln oder im Angesicht der Berge. Die Jahre an der Uni, in meinen Gemeinden haben mich gelehrt, diesem Gefühl zu vertrauen.
Und ich bin überzeugt: der Aufsatz, den ich am Beginn des Studiums gelesen habe, hat Recht. Ich habe diesen Text bis heute unzählige Male gelesen. „Die Frage ist die Antwort.“ Und seine Antwort ist die Frage.
Ich verstehe diesen Satz inzwischen mit einem Bibelvers aus dem Predigerbuch. Darin heißt es, Gott habe dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt.
„Nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende (Pred 3,11).“
Mit dem Verstand lässt sich das nicht fassen. Aber mit dem Herzen feiern. So macht es auch U2 mit „I Still Haven’t Found What I’m Looking For“. Die Ballade übers Suchen wandelt sich in ein Glaubensbekenntnis…
„Ich glaube an das kommende Königreich. Wo alle Farben miteinander verschmelzen. Du hast das Kreuz getragen, meine Schuld. Ich glaube daran, an dich.“
Darin stimme ich ein. Für mich ist diese Welt ohne Gott nicht zu denken. Heute noch viel mehr als früher. Und das großformatige U2-Plakat habe ich immer noch. Es liegt zusammengerollt in einer Pappröhre auf dem Dachboden. Aber die langen Haare, der Bono-Look, die sind passé...
Dann und wann hole ich das „Joshua Tree“-Album aus dem Plattenschrank. Der Golddruck, die samtig-weiche Hülle. Knopfdruck, die Nadel senkt sich. Nach wie vor berührt mich diese Musik. Wegen ihrer Geschichten, wegen meiner Geschichte. Vom Suchen, Finden und Gefunden-werden. Ich glaube: Gott hat uns die Frage nach ihm ins Herz gelegt. Als seine Antwort.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- U2, Where the Streets Have No Name
- U2, I Still Haven’t Found What I’m Looking For
- U2, With Or Without You
- U2, In God’s Country
- U2, Bullet the Blue Sky
- U2, Running to Stand Still
Literaturangaben:
- K.Barth: Not und Verheißung der christlichen Verkündigung: K.Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1925, S.99-124.
- A.Corbijn, U2&I, München 2005, S. 5-17.
- Art. A. Platthaus, „Was treibt Sie zu den Malern, Herr Corbijn? Im Gespräch: Anton Corbijn“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. April 2012.