Stille Stadt

Hühner vor Frankfurter Hochhäusern

Echter Verlag GmbH/ Georg Magirius

Stille Stadt
Erfüllung im Minimalen
25.04.2021 - 08:35
02.05.2021
Peter Oldenbruch
Über die Sendung:

"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Ja, ich gestehe: Ich gehöre nicht zu denen, die bescheiden sind. Genügsamkeit? Diese angebliche Tugend ist nichts für mich. Stattdessen strebe ich nach Reichtum! Und eine der größten Kostbarkeiten ist für mich – die Stille.

Dabei gilt sie momentan eher als Massenware, weil das Leben sich seit Monaten immer wieder zurückzuziehen hat. Diese verordnete Ruhe betört mich nicht. Der Lärm wird dadurch vielleicht kleiner. Doch fördert die Ruhe, die erzwungen ist, den Lärm in mir. Ich bin unzufrieden! Stoße an Grenzen, will diese überwinden.

So bringt die erzwungene Stille mich nur noch mehr dazu, den Weg der Freiheit zu gehen. Ich suche nach Augenblicken, in denen mein Atem weiten Raum gewinnt. Momente, in denen ich einverstanden bin mit mir, der Welt und Gott. Ich will Frieden.

 

 

Die Stille suche ich in der Großstadt, in Frankfurt, wo ich lebe. Also ausgerechnet dort, wo Flughafen, Straßen, Schienen und die Skyline von Geschäftigkeit, Effizienz und dem Streben nach dem Maximalen zeugen.

Frankfurt ist Deutschlands Pendlerhauptstadt, die Unruhe eines ihrer Markenzeichen. Aber ich bin kein Pendler. Die gläsernen Fassaden der Wolkenkratzer sind nicht das Ziel meiner Sehnsüchte. Auf der Suche nach stillen Augenblicken lasse ich mich lieber davon leiten, wie Frankfurterinnen und Frankfurter sprechen. Ihr Dialekt klingt weich – und damit anders als der Ruf, den Frankfurt hat, nämlich eine harte Stadt zu sein. Mit großem Ernst betrachten Alteingesessene, was andere für nebensächlich halten. Über Winzigkeiten können Frankfurter stundenlang debattieren. Und dem, was gewöhnlich als wichtig gilt, verweigert man den Ernst.

Zum Beispiel im Apfelweinlokal! Musik gibt es dort nicht. Dafür wandern die Gespräche in immer neuen Schleifen dahin. Still im messtechnischen Sinn ist das nicht. Nur schmerzt dieser Klang mich nicht, das ist kein Lärm. Mit Gleichmut und unablässig wird an einem ewig wirkenden Gesprächsteppich gewoben.

Trete ich dann wieder aus dem Apfelweinlokal nach draußen, dröhnt der Kopf nicht etwa, sondern fühlt sich durchgelüftet an! Eine Ruhe dieser Art suche ich. Ich fahnde nach Orten, wo das Aufgeregte, Scharfe und Schneidende zurücktritt. Wo sich Perspektiven zeigen, mit denen ich nicht gerechnet habe und wo das Rechnen und Berechnen endlich einmal ruhen darf.

 

Auf den Schwanheimer Wiesen war ich noch nie. Was beweist: Ich nehme fast immer den direkten Weg. Denn die Wiesen liegen nur eine kleine Schleife abseits meiner gewohnten Route in die Innenstadt. Am Rand der Wiesen stelle ich das Fahrrad ab, dort, wo ein Waldlehrpfad beginnt. Dieser Pfad besitzt die sagenhafte Eigenart, seit 1978 zu bestehen! Seitdem baute man Häuser, riss sie ab. Rief Wanderwege ins Leben, tilgte sie. Zu Fußball-Weltmeisterschaften reisten viele Nationen an, traten im nahen Waldstadion gegen den Ball, reisten ab. Den Waldlehrpfad aber gibt es immer noch, bestätigt das denkmalwürdige Eröffnungsschild.

Die Wegmarkierung zieht mich an, weil sie völlig eventuntauglich ist: ein hölzernes Eichenblatt. Im Wald, der die Schwanheimer Wiesen umgibt, stehen viele alte, eindrucksvolle Eichen. Die Wiesen entstanden vor Jahrhunderten, als die Waldrandbewohner von Geldnot geplagt waren. So verkauften sie immer wieder gerodetes Holz aus dem Waldgebiet, in dem 10.000 Jahre zuvor der Main immer neue Schlingen auslegte. Verließ er sein Bett, hinterließ er dort fruchtbaren
Auelehm.

Was dann geschehen konnte, erlebe ich, da mich das Eichenblatt an den Rand der Autobahn bringt. Der Waldpfad wird weich, matschig und schlängelt sich an einem langgestreckten See vorbei, dem Überbleibsel eines alten Flussarms. Ein wilder Bruchwald mit Eichen, Eschen und Ahornen. Spechte hämmern. Aus dem sumpfigen Wasser ragen dicke Wurzelstöcke, mehr als 1000 Jahre alt. Aus den Stöcken dieser Stelzerlen wachsen schlanke Stämme heraus, wirken wie Stelzengänger. Das Rumoren der Autobahn ist noch da, aber es stört nicht. Genauso wie all das nicht mehr ganz Junge in mir, das Sumpfige und Wilde. Es gehört zu mir.

 

Der Waldlehrpfad ist nicht so etwa kleinkariert, immer nur im Wald zu bleiben. Stattdessen lässt er jetzt die Bäume sein, führt hinaus auf die Schwanheimer Wiesen. Dort nehme ich den nächstbesten Grasweg und gehe mitten über die Wiesen auf zwei Weiden zu, die im Zentrum stehen. Der Ast einer der beiden Bäume ist so ausladend und nah am Boden, dass er bequem rasten lässt. Leicht schwingt der Ast, ich fange ein wenig an zu wippen. Sonst tue ich nichts, schaue nur. Nirgendwo ein Zaun! Die Wiesen – grenzenlos. Allerdings gehen sie nicht fließend in den Horizont über, eine Grenze gibt es also doch. Von allen Seiten umschließt die Wiesen der Wald, in dem ich eben noch unterwegs war. Und ist es gerade diese Grenze, die das Gefühl einer Entgrenzung bewirkt? Ringsum Wiesen, am Rand der Wald, dazwischen vereinzelte Punkte: Spaziergänger, die sich zeitlupenhaft bewegen, die einzige Handlung in diesem Schauspiel. Und über allem nichts als Himmel.

Meine Augen feiern das Fest der Unterforderung.

 

Meine Stille-Erkundung in Hörweite der Autobahn hat mich auf den Geschmack gebracht. Ist es am Ende sogar möglich, selbst am Frankfurter Flughafen eine Stille-Oase zu finden? Ich steige an der kürzlich eröffneten S-Bahn-Station Gateway Gardens aus, unweit von Terminal 1, im „Global Business Village“, wie die gleichnamige Grundstücksgesellschaft sagt. „Eine der spannendsten und größten Quartiersentwicklungen einer Airport City in Europa.“ Alles an diesem Viertel sei „im grünen Bereich“ dank Kongresszentrum, Hotels, eigenem Park und der Nähe zum Stadtwald. „Wir bauen Zukunft!“, lese ich auf einem Baustellenschild. Bei der Zukunft handelt es sich um ein Parkhaus. Wobei Parkhaus zu prosaisch klingt. In Wahrheit handelt es sich laut des Flughafenbetreibers um nicht weniger als „Innovation, umgesetzt in 1250 Stellplätze”.

Der Flughafen gilt als Tor zur Welt. Ich wähle eine andere Art der Weltentdeckung, überquere auf einer langgezogenen Brücke die Autobahn. Ich staune, wie viele Flugzeuge unterwegs sind im Himmel, der in den letzten Monaten so kondensstreifenlos geworden ist. Ausgangs der Brücke gehe ich wie auf einer Grenze: auf der einen Seite der Flughafen, auf der anderen der Stadtwald, einer der größten Stadtwälder Deutschlands. Das frische Grün lockt mich in den Wald.

Allerdings ist nicht alles im grünen Bereich. Knapp 99 Prozent der Bäume sind nach Auskunft des Forstamtes krank. Viele werden das nächste Jahr nicht erleben. Was unter anderem mit der globalen Mobilitätslust zu tun habe, für die der Flughafen ein Beispiel sei.

 

Immer tiefer gehe ich in den Wald. Der Geräuschteppich des Flughafens wird leiser, das Rascheln des Laubes und der darunter lebenden Tiere tritt nach vorn. Mit einem Mal ein Rauschen, ich biege um die Ecke - und jetzt sehe ich auch das Wasser. Es stammt vom Main, ist aufbereitet, um im Waldboden zu versickern und den Grundwasserspiegel zu heben. Das Wasser ist ein Vorbote meines Ziels, genauso wie neben der Sickergrube das alte Brunneneinstiegshäuschen. Hier beginnt ein begehbarer, bis zu 15 Meter unter der Erde liegender Tunnel, der einst die Brunnen einer Sauganlage verband. Weitere Häuschen markieren die unter dem Boden verlaufende Brunnengalerie und weisen mir die Richtung. Dann schimmert es hinter den Baumkronen grünlich-rot. Ist das ein Tempel, Schloss oder ein Gebäude eines Freiluftsagenparks? Wie ein verborgener Schatz wirkt der Kuppelbau, bei dem es sich um ein Industriegebäude handelt: das alte Pumpwerk des Wasserwerks Hinkelstein. Das denkmalgeschützte Gebäude hat aber durchaus etwas Märchenhaftes. Die Ziegeln der Kuppel sind in verschiedenen Farben glasiert. Auf der Kuppel ruht eine gläserne Laterne, und auf der Laterne balanciert eine Nixe. Ihre stille, schwebende Eleganz erzählt von einer vollendeten Leichtigkeit. Und weist auf den Wert des Wassers hin. Denn das alte Pumpwerk steht in einem Wasserschutzgebiet, befindet sich auf dem Gelände des heute automatisch betriebenen Wasserwerks, ohne das der Flughafen völlig hilflos wäre.

 

Wenige Schritte abseits der üblichen Wege finde ich Erfüllung. Es betören mich Winzigkeiten. Objektiv betrachtet ist das lachhaft, mich aber berauscht das Minimale.

Ich begegne ihm, wenn ich nicht ergebnisorientiert danach suche. Die Stille findet eher mich, ungeplant. An Orten, wo ich es nicht erwartet habe. Wenn es gar nicht leise ist, sich in mir aber trotzdem die Stille ausbreitet – dank überraschender Perspektiven, die ich nicht erzeugen muss.

Das kann selbst mitten in der dicht bebauten Innenstadt Frankfurts geschehen, gleich neben der Neuen Altstadt, die seit ihrer Eröffnung unzählige Menschen anzieht. Aber nicht dort, sondern an der Kunsthalle Schirn erwartet mich die Üppigkeit des Minimalen. In einem kreisförmigen Kuppelbau, einer Wandelhalle, von der aus es in die Kunsthalle hineingeht.

Der Kuppelbau hätte der Neuen Altstadt beinahe weichen müssen, denn er liegt am Rand des Krönungsweges, den einst die Kaiser nach ihrer Krönung vom Dom zum Römer feierlich abschritten. Ich folge jedoch nicht den Spuren der Kaiser, sondern biege vom Dom aus in den Säulengang der Kunsthalle ein. Die quadratischen Säulen des Ganges gewähren verblüffende Durchblicke auf die Umgebung. Leicht geht es den Samstagsberg hinauf, auf dem es vor Jahrhunderten samtags einen Markt gegeben hat. Jetzt steht auf dieser Erhebung die Wandelhalle, die mich mit der Großzügigkeit des Himmels bekannt macht. Verantwortlich ist dafür ausgerechnet ein Dach, allerdings eins aus Glas. Die Streben in diesem Glasdach laufen auf die Mitte zu. Und betonen damit das Minimum, den Punkt, die geringstmögliche Ausdehnung überhaupt. Diese Konzentration engt mich aber nicht ein, sondern führt ins Offene. Denn vom Punkt folgen meine Augen den Streben wiederum in die umgekehrte Richtung, in die Weite.

Manchmal wird die Wandelhalle für Ausstellungen genutzt, aber nicht jetzt. Ich genieße ihre Leere, schaue weiter durch das Dach hindurch, wie durch ein riesiges Fernrohr in die Wolken. Wie lange liegt mein Kopf jetzt schon im Nacken? Der Nacken wird nicht hart, kein Schwindel. Stattdessen erlebe ich eine wunderbare Lösung. Fest stehe ich auf städtischem Boden, bin aufgehoben. Der Zugang zu diesem Ort ist frei.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
 

  1. Philip Glass (Komponist) – Lavinia Meijer (Harp), Metamorphosis One/ Moderate, CD-Ttel: Metamorphosis – The Hours
  2. Philip Glass (Komponist) – Lavinia Meijer (Harp), Metamorphosis/ Choosing Life, CD-Titel: Metamorphosis – The Hours
  3. Philip Glass (Komponist) – Lavinia Meijer (Harp), I’m going make a cake, CD-Titel: Metamorphosis – The Hours
  4. Philip Glass (Komponist) – Lavinia Meijer (Harp), Metamorphosis/ Choosing Life, CD-Titel: Metamorphosis – The Hours
  5. Philip Glass (Komponist) – Lavinia Meijer (Harp), Metamorphosis Four/ Flowing, CD-Titel: Metamorphosis – The Hours
  6. Philip Glass (Komponist) – Lavinia Meijer (Harp), Metamorphosis/ Choosing Life, CD-Titel: Metamorphosis – The Hours

 

 

 

 

02.05.2021
Peter Oldenbruch