Der Augenblick ist mein

Wort zum Tage
Der Augenblick ist mein
08.07.2015 - 06:23
23.06.2015
Pastor Olav Metz

Jetzt kann ich ihn auswendig! Mit diesen Worten begrüßt mich die alte Dame und lacht dabei übers ganze Gesicht. Ich verstehe nicht recht und mache offenbar ein eher dummes Gesicht. Deshalb erklärt sie umgehend: Ich meine den Spruch, den sie uns gesagt haben, vor drei Wochen zu unserer Goldenen Hochzeit! – Jetzt kann ich ihn auswendig!

 

Diese Goldene Hochzeit habe auch ich noch in guter Erinnerung: Erst der feierliche Gottesdienst in der Kirche mit der ganzen Familie und dem Segen für das Goldene Hochzeitspaar. Danach dann die festliche Kaffeetafel mit vielen Gästen, mit großen und kleinen Reden und mit unendlich vielen Geschichten von früher.

Und natürlich weiß ich jetzt auch den Spruch, den ich den beiden mitgegeben habe. Es ist ein Vers von Andreas Gryphius, den dieser vor etwa 350 Jahren aufgeschrieben hat: Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen; mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein, und nehm' ich den in acht, so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.

 

Jetzt kann ich ihn auswendig! freut sich die alte Dame. Und ich frage zurück, was ihr an dem Spruch denn so besonders gefallen hat. Die Antwort kommt prompt: Ich glaube, das ist die beste Möglichkeit, wie man in meinem Alter leben kann. Was war, ist vergangen. Ich kann es nicht festhalten. Und was kommt, wie viele Jahre mir noch vergönnt sind und wie sie werden mögen, das weiß ich nicht.

 

Aber darüber zu jammern oder in Grübelei zu versinken, das nützt nichts. Und deshalb versuche ich lieber, das Beste aus jedem Augenblick zu machen. Schöne Augenblicke gibt es nämlich immer noch ganz viele. Und die werde ich mir nicht durch Grübeleien und Sorgen vermiesen!

 

Dass Menschen sich das Leben schwer machen wenn sie klagen über das, was nicht mehr ist, oder sich Sorgen machen um das, was kommen mag, das erlebe ich auch bei jüngeren immer wieder – und manchmal auch bei mir selbst. Insofern scheinen mir die Worte von Andreas Gryphius nicht nur etwas für Leute jenseits der 70 zu sein.

 

Aber wenn ein Mensch wie diese alte Dame solche Worte in sein Herz schließt, hat das für mich doch ein besonderes Gewicht. Denn gerade wer alt geworden ist, kann wohl noch klarer sehen, dass dies nicht nur ein Lebenskonzept ist, sondern dass wirklich jeder Augenblick ein Geschenk ist, ein Geschenk Gottes.

 

Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen; mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein, und nehm' ich den in acht, so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht. Sie wiederholt die Worte nochmal. Dann lacht sie und ich danke ihr für diese kurze, eindrückliche Predigt.

23.06.2015
Pastor Olav Metz