Straße der Befreiung

Wort zum Tage
Straße der Befreiung
03.01.2017 - 06:23
29.12.2016
Pfarrerin Kathrin Oxen

Sie hatte mir die Adresse über facebook mitgeteilt. Wie in vielen Städten, gibt es auch in Wittenberg eine Initiative, die Flüchtlinge unterstützt. Sie organisiert sich über die sozialen Netzwerke. Es würden Inliner für Kinder gesucht, schrieb sie. Ich hatte einen ganzen Karton voll im Keller, verschiedene Größen, aus denen meine Kinder nacheinander herausgewachsen waren. Und die wollte ich gerne weitergeben.

„Straße der Befreiung“ war die Adresse. Sie liegt im Wittenberger Plattenbauviertel. Ihre Parallelstraße ist die „Straße der Völkerfreundschaft“. Ich komme fast täglich dort vorbei und denke mir bei diesen Straßennamen aus DDR-Zeiten eigentlich nur, wie man die wohl in Formulare eintragen soll. Und „Völkerfreundschaft“ – das war doch damals eher etwas staatlich Verordnetes, oder nicht?

Nach ein bisschen Suchen hatte ich den richtigen Eingang gefunden. Die Kinder kamen mir schon erwartungsvoll entgegen und halfen mir, meine Kartons die Treppe hochzutragen. Die Familie hatte nach einer Zeit im Übergangswohnheim nun endlich eine eigene Wohnung bekommen. Immerhin drei Zimmer für sieben Personen. Das Wohnzimmer einigermaßen vollständig möbliert, ein Sofa, ein Esstisch mit Stühlen. Auf dem Herd kochte das Abendessen.

Die Frau, die mir die Adresse mitgeteilt hatte, war auch da. Nein, organisiert sei hier nichts, antwortete sie mir auf meine Nachfrage. Sie wohne hier im Haus und kümmere sich einfach ein bisschen um die Familie, helfe bei Behördengängen und versuche, das Nötigste an Möbeln und Kleidung zu besorgen. Das mit den Inlinern sei so ein Herzenswunsch der Kinder gewesen.

Mit den Kindern konnte ich mich schon gut unterhalten. Sie gehen hier zur Schule, „Rosa Luxemburg“ berichteten sie mir ganz selbstverständlich. Die Erwachsenen besuchen Sprachkurse. Langsam fängt für sie alle ein neues Leben an. Ihre Heimat ist Aleppo. Aber sie wissen, dass sie dorthin wohl nicht zurückkehren können.

Ich bin dann später ohne Kartons, aber mit einem Herz voller Hoffnung nach Hause gefahren. Und auch befreit von meinen eigenen Vorurteilen. Ich weiß jetzt: In der „Straße der Befreiung“, mitten in Sachsen-Anhalt, in einem typisch ostdeutschen Plattenbauviertel wohnen Menschen, die facebook nicht dazu benutzen, um Hasskommentare zu posten. Sondern um Kindern einen Herzenswunsch zu erfüllen. Meine Hoffnung hat jetzt eine Adresse. Und die liegt gleich neben der „Straße der Völkerfreundschaft“.

29.12.2016
Pfarrerin Kathrin Oxen