Morgenandacht
Leben mit der Matthäuspassion
29.03.2021 06:35

Die Sendung zum Nachlesen: 

Die Matthäuspassion von Bach! Seit Kindertagen gehört sie für mich zur Karwoche dazu. Mat-thäuspassion in der Karwoche – das musste sein, wenigstens im Radio. So war es üblich bei meinen Eltern. 
Als Jugendlicher war mir diese Musik fremd, schon allein, weil es die Musik der Eltern war. Und noch fremder wurden mir die theologischen Aussagen: O Mensch, bewein dein Sünde groß. Ich, ich und meine Sünden, so heißt es in der Matthäuspassion ganz selbstverständlich. Was für ein Menschenbild, was für ein Gottesbild haben diese alten Choräle? Von meinen theologischen Lehrerinnen und Lehrern habe ich gelernt: Man kann diese Musik lieben, auch wenn man an die Texte kritische Fragen hat. Vor allem: Man muss sich mit dieser Kirchenkomposition von Bach beschäftigen, um sie zu verstehen. Die Matthäuspassion ist mehr als ein Kunstgenuss. Sie ist eine große musikalische Andacht. Und sie bewegt Menschen, innerhalb und außerhalb von Kirchenmauern. 

Komponiert hat Bach seine Matthäuspassion aus dem biblischen Text, der Passionsgeschichte vom Leiden und Sterben Jesu im Matthäusevangelium. Dazu geistliche Gedichte von Bachs Zeitgenossen Picander, die das Erzählte deuten. Und Strophen aus Passionsliedern. 
Die Musik überwindet den zeitlichen Abstand zwischen dem biblischen Damals und dem heuti-gen Jetzt. 
Im Lauf der Jahre ist mir die Matthäuspassion ans Herz gewachsen. Je öfter ich sie höre, ihre Texte mitlese, umso mehr wird sie mir wichtig: Als eine Weise, wie ich auf dem letzten Weg Jesu dabei sein kann. Durch Hören und Nachsinnen. Aber auch mit Fragen: Was hat das Leiden und der Tod Jesu mit mir und meinem Leben zu tun? 

Meine beiden Lieblingsstellen sind der Eingangschor und dann vor allem der Choral direkt nach dem Tod Jesu: 
„Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir. …Wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten, / kraft deiner Angst und Pein“. (EG 85, 9)
Manchmal kommen mir dabei die Tränen. Die Melodie dieses Verses habe ich meinem Vater am letzten Tag seines Lebens vorgesummt. Der Choral wurde im Trauergottesdienst gespielt. Wenn ich ihn heute höre oder singe, denke ich auch an meinem Vater. Denke an Fragen, die beim Tod eines nahen Menschen hochkommen: Wenn es ernst wird in meinem Leben – wer ist dann da für mich? Wie wird es sein, wenn mein eigenes Leben einmal zu Ende gehen wird? Eine Antwort hat der Choral nicht. Aber eine Sprache für meine Ängste. Wenn ich einmal soll scheiden, dann bleib du bei mir, kraft deiner Angst und Pein… Du, Jesus, weißt, wie das ist: Angst haben, loslassen müssen, sterben. 

Jahr für Jahr entdecke ich etwas Neues in der Matthäuspassion, das mich berührt. Oder etwas Neues zum Nachdenken. Oder etwas Neues, das ich sperrig finde, das mich den Kopf schütteln lässt. Wie beim Hören der Passage, in der das jüdische Volk zum Machthaber Pilatus ruft: ‚Je-su Blut komme über uns und unsre Kinder‘. Judenhass bezieht sich auf Stellen wie diese, und Bach unterstreicht das musikalisch. Ich bin zornig beim Hören und entsetzt darüber, wie sol-che Schuldzuweisung bis heute in einem der großen christlichen Kulturgüter Jahr für Jahr wei-ter klingt. Wie kann das sein?

Doch Bach selbst hat diese Fragen in der Matthäuspassion schon beantwortet: „Was ist die Ursach aller solcher Plagen?“ (19. Rezitativ Tenor und Chor) Nicht die Juden, sondern: „Ach! meine Sünden haben dich geschlagen. Ich, ach Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erdul-det.“ – Ich also bin mitschuldig, mitverantwortlich am Tod Jesu? 
Es gibt keine Deutung des Leidens Jesu, die nicht neue Fragen aufwirft. Mir öffnet die Mat-thäuspassion einen Raum, in dem ich immer wieder nachsinnen und entdecken kann: Das mit dem Leiden und Sterben Jesu, das hat auch mit mir zu tun, mit meinem Leben, meinen Fragen, meinen Ängsten, und auch mit meinem Versagen.
 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

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