Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen wegtun aus Ephraim und die Rosse aus Jerusalem und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.
Sätze des biblischen Propheten Sacharja. Sie werden heute in den Gottesdiensten am ersten Advent vorgelesen. Schriftlesung nennt man das – und dafür zuständig sind nicht die Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern Gemeindeglieder wie Anke Krabbe. Sie ist Lektorin in der St.-Nikolai-Gemeinde in Berlin-Spandau:
Das mach ich nicht nur sehr gerne, sondern das mach ich leidenschaftlich gerne. Ich finde, dass die Sprache der Bibel eine sehr kaftvolle und sehr klare ist und sehr stark ist und auch stark macht. Und für mich ist das immer so’n kleines bisschen so’n Geheimnis, auch so’n Text zu erschließen, also zu gucken, was will der mir damit sagen und was ist denn auch mit der Relevanz zur heutigen Zeit.
Und das ist für mich manchmal wie son kleiner Kriminalroman oder wie son Kriminalfall, indem ich versuch, herauszukriegen, was ist das denn eigentlich für ein Text, also (…...) für mich ist das immer ganz wichtig, dass ich einen Text verstehe, damit die anderen den Text verstehen.
Anke Krabbe bereitet sich gründlich vor, bevor sie im Gottesdienst zum Lesepult geht: Sie schaut, in welchem Zusammenhang die Bibelstelle steht, liest verschiedene Übersetzungen und sucht im Internet nach Predigten dazu. Es ist ja auch nicht immer einfach, nachzuvollziehen, warum nun gerade diese Bibelstelle gelesen werden soll. Warum zum Beispiel ist denn am ersten Advent vom König die Rede, der in Jerusalem einzieht, wo doch alle jetzt an Weihnachten denken und das Jesuskind im Stall? Ich frage eine Theologin, die sich in Fragen zum Gottesdienst bestens auskennt: Ilsabe Alpermann, Studienleiterin für Gottesdienst in Berlin.
Advent heißt Ankunft – und diese Ankunft ist in unserem gottesdienstlichen Kontext doppelt bestimmt: Es geht einmal um die Ankunft des Jesuskindes zu Weihnachten, die da gefeiert wird. Es geht aber auch um die Ankunft Jesu Christi am Ende der Tage, die manchmal zweiter Advent genannt wird, manchmal auch Wiederkunft genannt wird, sozusagen das Ereignis, auf das eigentlich Christen auch hin hoffen. Und das spielt bei allen Adventssonntagen eine Rolle und das muss man wissen, wenn man einordnen will, wie jetzt auch der erste Advent thematisch bestimmt ist.
Der gerechte König, von dem der Prophet Sacharja spricht, das ist die Hoffnung Israels auf den Messias, der endlich Frieden bringt für alle Völker. Diese Hoffnung teilen die Christen, wenn sie das Kommen Christi erwarten. Darum wird alle Jahre wieder in den Gottesdiensten am ersten Advent die Sehnsucht nach Gottes Frieden geweckt.
Dieses Motiv des Frieden bringenden Königs – das ist ein endzeitliches Motiv, ein Motiv der Erwartung und der Hoffnung in einer Zeit, die ganz friedlos war und das ist etwas, was, glaub ich, für heute auch sehr anschlussfähig ist, diese Erfahrung der Friedlosigkeit und Unruhe und großen Besorgnisse, überbordenden Ängste, die auch heute viele Menschen beschäftigen und bestimmen, wird durch diese Texte in das Licht der endzeitlichen Hoffnung getaucht: Irgendwann wird Gott sein Friedensreich aufrichten und unsere Sorge wird vorbei sein. Also, das ist auch etwas, was mit dieser Erwartung, dieses letztlich auch wieder mit der Erwartung des Advents zu tun hat, wenn wir jetzt gucken – Dieses Kind, auf dessen Ankunft wir uns mit den Adventssonntagen vorbereiten – das ist ja auch das Kind, von dem wir Frieden erwarten.
Hoffnung ist das Thema des ersten Advents – und also auch der andern Schriftlesungen im Gottesdienst. Dazu gehört immer ein Abschnitt aus den Evangelien, die von der Geschichte Jesu erzählen. Aber die Evangeliumslesung heute fängt da nun nicht am Anfang an: Von der Geburt Jesu wird erst zu Weihnachten die Rede sein. Die Evangeliumslesung heute greift vielmehr das prophetische Bild vom Friedenskönig auf: Jesus ist dieser König, wissen die Evangelisten und so erzählen sie, wie Jesus seine Jünger bittet, für seinen Einzug in Jerusalem eine Eselin zu beschaffen.
Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Hosianna – das ist der biblische Jubelruf, weil Gottes Hilfe nahe kommt. Wenn Anke Krabbe das Evangelium im Gottesdienst liest, dann liegt ihr viel daran, auch die Stimmung zu vermitteln, die zu dem Text gehört.
Und wenn ich das spreche und damit hab ich ein Stück von dem Background des Textes. Und wenn ich so etwas wie Hosianna sage, dann ist das ein Freudenruf und der muss auch freudig gerufen werden. Und das versuche ich und ich glaube, dass Texte da ganz gut nachvollziehbar sind, auch wenn man den restlichen Kontext nicht hat, aber mit einem starken Ausdruck ist es doch möglich, das nochmal einordnen zu können.
Schriftlesungen gehören zu jedem Gottesdienst. Schon im Neuen Testament wird davon erzählt. Die ersten Christen haben sich dabei auf die Praxis gestützt, die sie von ihren jüdischen Herkunftsgemeinden in der Synagoge kannten. Die Auswahl der Texte hat sich über die Jahrhunderte allerdings immer wieder verändert. Heute sind in den sogenannten Perikopenreihen jeweils drei Texte für einen Sonntag festgelegt: aus dem Alten Testament, den Evangelien und den Briefen der Apostel. Dabei wird darauf geachtet, dass jeder Sonntag im Kirchenjahr sein eigenes Thema hat und die Texte und Lieder sich gegenseitig ergänzen. Aber das war gar nicht immer so. Denn ursprünglich hatten die Epistellesungen, also die Lesungen aus den Briefen der Apostel, ihre Funktion unabhängig vom Evangelium des Sonntags. Ilsabe Alpermann erklärt:
Ein bisschen anders kann man sich das vielleicht bei den Episteln vorstellen. Die Episteltexte, die uns im Neuen Testament überliefert sind, die haben ja ihren Ursprung darin, dass die Apostel, die die Gemeinden gegründet haben, dann Briefkontakt mit den Gemeinden gehalten haben. Das bedeutet, sie haben Fragen beantwortet und sie haben Ratschläge gegeben. Es ging durchaus auch um Konflikte: Wie soll das christliche Leben, das diese Gemeinden neu für sich entdeckt haben, denn im Alltag der Umgebung der andern Menschen, die keine Christen waren, gelebt werden. Dafür brauchte es Hilfestellung. Heute würde man vielleicht sagen: Coaching. Das schlägt sich in diesen Episteltexten nieder, die dann auch von Gemeinde zu Gemeinde weitergegeben und gelesen wurden – da hat sich auch schon so eine Tradition von Lesungen entwickelt.
Inzwischen sind die Lesungen aufeinander abgestimmt, aber immer noch gilt: In der Epistellesung geht es um das Verhalten der Gemeinde. Am ersten Advent kommt da ein Appell des Apostels Paulus zu Gehör:
Seid niemandem etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt, denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Und das tut, weil ihr die Zeit erkannt habt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf (….) Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.
Man spürt, wie es den Apostel Paulus drängt, die Gemeinde wachzurütteln. Und das ist etwas, was Anke Krabbe, wenn sie die Epistel liest, dann auch besonders anspricht:
Die Botschaft, die ich ausspreche, die bekomm ich ja selber in dem Moment, also macht der Text auf jeden Fall etwas mit mir. Es gibt – Gerade Paulus zum Beispiel lese ich wahnsinnig gern. Der hat eine sehr klare, starke, manchmal ein bisschen zornige Sprache und versucht, die Menschen zu überzeugen und dahin zu bringen und ich fühl mich dann in diesen Sog dann auch mit hineingezogen – ich mag das sehr gerne.
Der Tag ist nahe herbeigekommen – das Bild des Apostels Paulus klingt zusammen mit der Verheißung vom Kommen des Friedenskönigs: Ein Zeitenwechsel wird erwartet. Und davon sprechen dann auch viele Adventslieder. Direkt auf die Worte aus der Epistel bezieht sich Jochen Klepper in diesem viel gesungenen Lied:
Musik ‚Die Nacht ist vorgedrungen‘
Nur ein biblischer Text wird im Gottesdienst erklärt. Das geschieht in der Predigt. Die anderen Schriftlesungen stehen für sich und da hängt es sehr von den Vortragenden ab, ob sie auch wirklich gehört und verstanden werden können. Einfach ablesen, das weiß Anke Krabbe, reicht nicht:
Ich soll den Text der Gemeinde näher bringen, also ich (habe auch tatsächlich, ich) empfinde das als einen Auftrag, ihn selbst irgendwie zu entschlüsseln und ihn zu transportieren, also den Inhalt – deswegen gebe ich mir da auch viel Mühe und versuche, das vorzubereiten – also, so einfach einen Text runterlesen, ohne dass ich viele Fehler mache, das kann ich, aber die Bedeutung eines Textes präsent zu machen, das hat viel mit Pausen, mit Sprechmelodie, mit Dynamik zu tun. Bin ich laut oder leise? Wie ist der Text und seine Stimmung? Das ist für mich ganz wichtig, das erstmal auszuloten und dann nehm ich so einen Text wirklich immer und immer wieder in den Mund. Ich spreche ihn relativ viel vorher, bevor ich ihn dann zu Lesen bringe.
Anke Krabbe ist von Beruf Logopädin. Sie versteht etwas vom Sprechen und von der Stimme. Auf den richtigen Ton kommt es ja zuallerst an, wenn ein Text die Zuhörenden erreichen soll. Ihn zu finden, das kann man üben, zum Beispiel bei der Atemtherapeutin und Sprecherzieherin Heike Hanus. Sie sagt:
Vor der Stimme kommt der Ton bei uns an. Das heißt, ehe ich begreife, was das Wort mir sagt, bevor mein Gehirn interpretiert, was da kommt, kommt der Ton. Und dieser Ton macht, dass ich wie eine Vorstimmung bekomme, das heißt ich merk genau, wenn jemand sagt: ‚Du bist aber nett‘, dann merk ich sofort am Ton, ist genau das Gegenteil gemeint. Und deswegen ist es so wichtig, dass dieser Ton widerspiegelt, die Wahrheit, in der die Frage gestellt ist. Also, ich fasse Vertrauen, wenn jemand mich über den Ton schon im Anfang erreicht. So. Und der Sinn kommt viel später erst an, dieses Nachdenken über das Wort oder das Hineindenken in das Wort kommt viel später an. Wir müssen verstehen, dass die 60 Prozent dessen, was wir hören, ist nonverbal, kommt auf ganz andern Wegen als über die Wortbedeutung. Man kann sich vorstellen, dass der Ton den Weg bereitet, dass der Ton das Bett bereitet, in das wir dann die Bedeutung der Worte geben können.
Und darum geht es für die Lektorinnen und Lektoren gar nicht nur darum, sich mit dem Sinn des Textes und der Gestaltung des Vortrags zu beschäftigen. Genauso wichtig ist die körperliche Einstimmung, die richtige innere Spannung:
Das zum einen, dass ich selber anwesend bin mit meinem Körper, das heißt, Ich leihe diesem Wort meinen Körper. Es bekommt einen Leib und dadurch erst kann der Ton schwingen. Und dann kommt natürlich zum Tragen, was ich sagen will, das heißt, die Stimmung, in der ich etwas sagen will: Will ich eine Aufforderung aussprechen, will ich etwas vorlesen, will ich etwas rezitieren. Daraus ergibt sich auch nochmal eine bestimmte Einstellung in mir, also eine Leiblichkeit, die ich herstellen muss. Also, wenn ich zum Beispiel erzähle, habe ich eine andere Spannung, als wenn ich rezitiere. Wenn ich jemanden in einem großen Raum anspreche ist es anders, als wenn jemand direkt vor mir sitzt. Und dieses Einstellen des Leibes auf die Situation – das ist eine Arbeit, die ich für mich tue als Sprecher, wo ich mich vorbereite.
Für Heike Hanus geht dabei gar nicht so sehr um bestimmte Sprechübungen, sondern vielmehr um eine wache Selbstwahrnehmung. Atemübungen, die helfen, zur Ruhe zu finden oder auch im Gegenteil Müdigkeit zu überwinden – eben ganz präsent zu sein
für den Text, der als Gottes Wort gehört werden soll. Und dann mag sich auch die Leidenschaft einstellen, mit der Anke Krabbe ihre Aufgabe als Lektorin im Gottesdienst wahrnimmt:
Das ist für mich tatsächlich ne Form von Verkündigung und das ist etwas, das möchte unbedingt raus aus mir. Vielleicht schon auch, weil es so alt ist und weil es immer schon und immer schon so gesprochen wurde und dadurch so eine manifestierte Wahrheit hat. Unabhängig von einer zeitgenössischen Interpretation ist das das, was seit ewigen Zeiten immer wiederholt wird. Es ist der gleiche Text, der immer noch Bestand hat und immer noch, denk ich, an Aktualität gar nicht so viel verloren hat, weil es immer um das Menschsein und die menschlichen Fragen geht und das sind Antworten darauf und die sind schon sehr alt und die haben ihren Bestand nicht verloren oder ihren Sinn, die so zu sprechen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Neuer Knabenchor Hamburg, Hosianna, dem Sohne Davids, CD-Titel: Es singt und klingt mit Schalle
- Neue Musikschule Regensburg, Die Nacht ist vorgedrungen, CD-Titel: Tauet, Himmel, den Gerechten, Lieder zum Advent
- Chor des Bayerischen Rundfunks, Machet die Tore weit, CD-Titel: Machet die Tore weit, Advents- und Weihnachtslieder