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Liebe Hagar,
ich tu’s nur noch selten in diesen hektischen Kurznachrichten-Zeiten, aber dir möchte ich heute schreiben, einen richtigen Brief. Langsam denken und zögerlich formulieren. Vielleicht ist dieser Brief an dich ja auch ein Brief an mich.
2500 Jahre trennen uns. Völlig unterschiedliche Lebenswelten. Aber wenn ich deine Geschichte lese, im ersten Buch der Bibel, berührt sie mich.
Liebe fremde Freundin, wer bist du, woher kommst du?
Du wurdest so nie gefragt. Hattest fraglos zu dienen – als ausländische Sklavin im Haus von Abraham und Sara. Vermutlich haben deine Herrschaften dich und deine Arbeitskraft geschätzt. Und bestimmt fand Abraham dich attraktiver als seine unfruchtbar verschlossene Frau. Saras Bitterkeit war so unübersehbar geworden – in den langen Jahren des vergeblichen Wartens auf den versprochenen Stammhalter. Immerhin hat Sara die Kraft besessen, dich mit ihrem Mann zu verkuppeln.
War ja ein übliches Arrangement bei Unfruchtbarkeit der Erstfrau.
Wie mag das für dich gewesen sein, als dein Herr zwecks Verwirklichung der göttlichen Verheißung zu dir ins Bett stieg? Hat er dich achtsam behandelt? Fühltest du dich gekränkt und nur benutzt? Oder war dieser aus heutiger Sicht erniedrigende Status „Zweitfrau“ irgendwie auch ein Schutz für dich? Schutz vor häuslicher Gewalt – so wichtig. Die erleben Frauen auf so viele Art und in allen Gesellschaften heute immer noch. Wir müssen das bekämpfen.
Ich kann mir gut vorstellen – als es dann so weit war wie geplant – wie du so richtig aufgeblüht bist als Schwangere: Wie du oft zart über deinen wachsenden Bauch streichst. Ziemlich glücklich. Wie du auch mal schräg und spitz auf die verhärmte Sara guckst. Ein bisschen zickig.
Bestimmt warst du bei allem Stolz auch besorgt: Mein Baby! Noch untrennbar mit mir verbunden. Aber dann? Was wird werden? Mit dem Kind? Mit mir? Darf ich es überhaupt lieben? Das muss dich doch schier zerrissen haben, Schwester Hagar. Leihmutterschaft – wie furchtbar. Auch heute.
Absehbar, dass Sara die Konkurrenz mit dir, der fitten Zweitfrau, irgendwann nicht mehr ertragen konnte. Typisch, dass der starke Mann zwischen euch zwei Frauen zu schwach war, um zu vermitteln und die Situation zu klären. Klar, dass du fliehen musstest. Und ein Wunder, dass du gefunden wurdest in der Wüste. Vom Allerhöchsten selbst, von seinem Boten.
Der spricht dich an, mit deinem Namen. Und er stellt dir dann diese schlichte, aber für dich ungewohnte Frage: Hagar, woher kommst du?“ Bisher warst du in der Geschichte nur die namenlose Magd. Jetzt wirst du zur Person. In deinem Namen klingt deine Geschichte durch: „Hagar“ kommt aus dem Arabischen und bedeutet „fremd, die Fremde“.
So an-gesehen und an-gefragt zu werden – wie befreiend für dich! Ich stelle mir vor:
Du richtest dich auf im Wüstensand. Machst den Rücken gerade. Die Schultern breit. Hebst den Blick. Genießt Augenhöhe und Wertschätzung.
Gesehen werden: Wir heute tun das mit zahllosen Posts, hundertfach geteilt. Wollen an-gesehen sein: mit makellosem Leben.
Sehen und gesehen werden. Gar nicht so einfach. Ich z.B. sitze wegen langjähriger Multipler Sklerose im Rollstuhl. Ein Rollstuhl macht klein. Macht unsichtbar und auffällig zugleich. Fußgänger gucken von oben runter, ich sehe oft nur Rücken und Bäuche. Will ich mich zeigen – als „Behinderte“? Wie nehmen mich andere wahr?
Wenn ein dunkelhäutiger Mensch zum x-ten Mal gefragt wird: „Woher kommst du?“ und dann zum x-ten Mal erklären muss, dass er aus Bottrop kommt… oder so…
Die Frage ist nicht so „ohne“: Verstärkt sie das Gefühl von Fremdsein? Oder öffnet sie für Begegnung auf Augenhöhe: Wer bist du? Erzähl mir von dir!
Du, Hagar, willst offen antworten: „Ich bin geflohen…“ Mitten in der Wüste hebst du an, dem Gottesboten deine Geschichte zu erzählen. Aber da sofort – peng! – der Rück-Schlag: „Geh zurück!“ Unfassbar, was dir der Engel da sagt! Aus der gerade gewonnenen Freiheit zurückkehren in die alte Unfreiheit? Das soll eine Gottes-Botschaft sein? Was für eine Zumutung!
Aber – ich frage zögerlich: vielleicht auch eine Zu-Mutung? Wieviel Mut traut der Allerhöchste dir zu, der entlaufenen Sklavin! Ja, zurückkehren in die äußerlich unveränderten Zusammenhänge. Aber anders: An-gesehen. Auf-gerichtet.
Innerlich frei und stark.
So wie vor Zeiten dem „großen“ Abraham wird jetzt auch dir, der „kleinen“ Flüchtlings-Frau, eine unzählbare Nachkommenschaft versprochen. Es freut mich, gerade als Frau, das zu lesen. Und – was für eine Ehre! – du bist die einzige Frau im ersten Teil der Bibel, der die Geburt eines Sohnes namentlich angekündigt wird. Er soll Ismael heißen: „Gott hört“.
Mir kommt da die Ankündigung einer anderen Geburt eines Sohnes in den Sinn, für eine andere junge Frau, im zweiten Teil der Bibel. Auch sie wurde so überraschend und überwältigend angesehen von Gott. Ihr Sohn soll Jeschua, Jesus, heißen: „Gott ist Rettung.“ Sprechende Namen. Wunderbare Mut-mach-Botschaften eines Gottes, der nicht nur sieht: Er hört. Er rettet.
Liebe Hagar, es fällt beim Lesen nicht gleich auf: Ermattet von deiner Flucht sitzt du da an der kleinen Wasserquelle und antwortest nur auf den ersten Teil der Frage, die der Fremde dir stellt: „Woher kommst du?“ Den zweiten Teil „Wohin gehst du?“ den übergehst du. Verständlich. Was hättest du auch antworten sollen? Nur weg will ich, nur weg. Fliehen ohne konkretes Ziel. Vielleicht Richtung Ägypten? Ach, egal...
Ganz ähnlich – Fluchtgedanken heute: Nur raus aus diesem miefigen Ort, aus dieser beengenden Beziehung, aus diesem unbefriedigenden Job. Egal wohin, zu wem, zu was. Nur weg… Die Frage „Wohin gehst du?“ ist auch heute nicht so einfach zu beantworten. Was ist mein Ziel, mein Plan – beruflich, beziehungsmäßig, fürs Leben überhaupt?
Hagar, wirklich bewundernswert, dass du nicht erstarrst vor Furcht. Die verstörende Begegnung wird für dich durchsichtig für Gutes. Im fremdartigen Boten erkennst du Gott selbst. Und du gibst diesem Gott einen Namen – als erste Person in der Bibel überhaupt: „El-Roi“.
Bis heute ist umstritten, wie dieser Name zu übersetzen ist: „Gott der mich sieht“? „Gott der Erscheinung“? Wer sieht hier wen? Sieht Gott dich, die bisher unsichtbare Hagar? Oder siehst du den nahbaren Gott?
Mir gefällt diese Vielschichtigkeit des Namens: Sehen und gesehen werden. Gott wendet sein Angesicht mir zu: Liebevoll über mir. Orientierend vor mir. Erhellend in mir. Und zugleich darf ich ihn wahr-nehmen als den, der mir voraus geht: lockend und bewahrend. Herausfordernd und stärkend.
El-Roi – in meiner Bibel wird der Name, den du Gott gibst, zu einem ganzen Satz, mit schönem Rhythmus und warmem Klang: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Als Jahreslosung soll dieser Satz Christinnen und Christen das ganze neue Jahr über ermutigen, anregen, begleiten.
Verändert das etwas, wenn ich weiß, dass Gott mich sieht? Du, Hagar, hast es so erlebt. Ich hoffe es für mich. Für uns. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Ja, das klingt gut, tut gut. Und es fordert mich heraus, den Menschen neben mir wahrzunehmen, meinen Nächsten. Er teilt diese Sehnsucht, gesehen zu werden, mit mir. Möge Gottes Blick doch abfärben auf uns – liebevoll-solidarisch. Das würde etwas verändern.
Liebe Hagar, du bist ja tatsächlich zu Abraham und Sara zurückgekehrt. Hast dort deinen Sohn Ismael geboren. Aber nachdem wundersamerweise die greise Sara auch Mutter geworden war, von Isaak, dem „echten“ Stammhalter, schickte Abraham dich und deinen – seinen – Sohn in die Wüste. Was für ein Drama!
Und wieder wurdet ihr knapp vor dem Verdursten gerettet. Ihr seid weitergewandert Richtung Ägypten. Ismael lebte – wie angekündigt – als Wüstensohn, heiratete eine ägyptische Frau, bekam viele Kinder und gemeinsam mit seinem Halbbruder Isaak begrub er viele Jahre später ihren Vater Abraham.
Es ist wirklich spannend: Gottes Verheißung für dich hat sich erfüllt. Du bist Stamm-mutter eines großen Volkes geworden, der Ismaeliten, der arabischen Völker. Und bist bis heute unvergessen. Am Ende war dein Leben reich und erfüllt – durch alle Krisen hindurch.
Ob du ein Beispiel bist für das, was wir heute Resilienz nennen? Innere Widerstandskraft, die Menschen im Sturm des Lebens wachsen lässt? Es ist so wichtig, das einzuüben. Im kleinen Alltag und in großen Krisen: nicht aufgeben, sondern durchhalten. Sich mutig Herausforderungen stellen, auch wenn sie überfordernd und sinnlos erscheinen.
Ich merke, mir fehlt da oft die Geduld. Und zuweilen auch die Zuversicht. Auch und gerade wenn ich über meinen kleinen persönlichen Tellerrand hinausgucke. So allgegenwärtig – diese schlechten Nachrichten! Der Zweifel nagt an mir. Lohnt es sich, Gott zu vertrauen, seiner Liebe und Macht, auch wenn die Realität seinen Versprechen so entgegen zu stehen scheint?
Die Schreiber des Alten Testaments, die deine Geschichte erzählen, ringen auch um solche Fragen für ihr Volk Israel: Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, die Zerstreuung des Volkes in alle Himmelsrichtungen – wie können wir angesichts solcher Krisen und Katastrophen Gott und seinen Verheißungen trauen?
Was zählt das Bekenntnis zu dem Gott, der uns aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat? Wie können wir unserer Identität als sein geliebtes Volk sicher sein? Oder ganz schlicht: Wo ist dieser Gott, der uns sieht?
Eine Antwort finden die Schreiber des Alten Testaments in den Geschichten von Ismael und Isaak. Die haben erstaunliche Parallelen: Die zwei Söhne Abrahams – der eine vom Vater in die Wüste geschickt und fast verdurstet, der andere vom Vater fast getötet und geopfert – beide werden von Gott gerettet, denn beide sind Kinder des Segens.
Gott steht zu seinem Bund mit seinem Volk. Der gilt Abraham und seinen Nachkommen, zuerst und besonders Isaak. Aber er bezieht auch Ismael mit ein. Gott ist treu. Von Generation zu Generation.
Ist das nicht zum Staunen, liebe Hagar, wie deine Lebensgeschichte als ausländische Sklavin verwoben ist mit der besonderen Geschichte Gottes mit Israel?
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Von deinem Bekenntnis aus spinnen sich Fäden bis in die Gegenwart. Spannende, hoffnungsvolle Perspektiven eröffnen sich für uns Menschen abrahamitischer Religion – Juden, Christen, Muslime: Als unterschiedlich an den Einen Gott Glaubende einander kennenlernen. Vorurteile abbauen. Gemeinsamkeiten entdecken. Zusammenleben einüben. Geschwisterlich den Frieden suchen. Denn Gott ist ein Gott, der auf alle seine Kinder sieht.
Danke, Hagar, für die Jahreslosung 2023. Sie wird mich begleiten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
Andreas Gundlach: Warum sollt ich mich denn grämen (für Klavier), CD-Titel: Predigt ohne Worte. Choralimprovisationen, Track Nr.12.
Mehr zur Jahreslosung hier:
Ulrike Greim, Tobias Petzoldt, Andrea Schneider: Du bist ein Gott, der mich sieht. Worte und Gedanken für ein ganzes Jahr, edition chrismon 2022.