Das Wunder, zu sich selbst zu erwachen

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Joseph Pearson

Das Wunder, zu sich selbst zu erwachen
von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
03.07.2024 - 06:35
20.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
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Sie ist die Tochter von… Hat keinen eigenen Namen. Jairustochter. Von ihr erzählen die Evangelien und von ihrer namenlosen Krankheit. Sie liegt wie tot da. Die Klageweiber verrichten schon ihren Dienst. Aber ihr Vater Jairus hofft und ruft Jesus um Hilfe. In der Bibel steht:

Jesus „fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talita kumi!, …Mädchen, ich sage dir, steh auf! Sofort stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt.“ (Markus 5, 38-42)

Was hat das Mädchen? Depression an der Schwelle zum Erwachsenwerden? Will sie nicht mehr leben? Kann sie nicht mehr leben? Ist die Familie ein Gefängnis? Ist für sie die Welt, wie sie ist, kein lebenswerter Ort? Die fragile Zeit zwischen Kindsein und Erwachsensein – wir wissen, dass man daran zerbrechen kann. Oder man erlebt das Wunder, gerettet zu werden aus Finsternis, aus Gewalt, aus inneren Kriegen. Das Wunder, zu sich selbst zu erwachen. 

Die Schriftstellerin Marica Bodrožić erzählt, wie sie als junges Mädchen in den 1980er Jahren zwischen Hessen und Dalmatien hin- und herpendelt. Lange Busfahrten, um ihren geliebten Großvater im Süden zu besuchen. Eines Tages steckt ihr Vater ihr kurz vor der Abfahrt ein Bildchen zu von Ante Pavelic – ein faschistischer Anführer, der das Leben ungezählter Menschen auf dem Gewissen hat, aber in der kroatischen Community im Stillen hoch verehrt wird.

Marica soll es absolut geheim halten, auch Großvater nichts sagen, nur im dörflichen Genossenschaftsladen abgeben. Das Mädchen wird jahrelang zur Komplizin, zur Schmugglerin, begreift aber nach und nach, dass da was nicht stimmt. Sie bekommt mit, wer im Dorf dem Faschismus nachtrauert, diesen Verbrecher verehrt, wer von den Verwandten sich feindselig gegen Serben und Juden äußert. Und das Vertrauen zum Vater bekommt einen tiefen Riss. Denn er, der die Verkörperung von Gesetz ist in der Familie, wird zum Gesetzesbrecher. Marica Bodrožić schreibt:

In meinem kleinen Kinderleben wurde das 20. Jahrhundert vorstellig, es öffnete mir durch einen Moment allerkleinster Durchlässigkeit den Zugang zu meinen eigenen Empfindungen. Durch das innere Unwohlsein, die Reibung, die beim Schmuggeln der Bildchen in mir entstand, ereignete sich und zeigte sich mir die Macht des Bewußtseins….Aus diesem Bewußtsein heraus ist über die Jahre und Jahrzehnte hinweg die Fähigkeit entstanden, nach innen zu hören, auf die Reibung zu achten, mich nicht zu unterwerfen.“ (Marica Bodrožić, Die Rebellion der Liebenden. Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten, btb Verlag 2024, S. 11)

Zu sich selbst erwachen, im eigenen Innenraum so etwas entdecken, was noch nicht überschrieben ist mit Gewalt und Negativität. Jesus führt die Jairustochter in diesen Innenraum. Steh auf, wach auf, spür dich, Mädchen. Du sollst leben und lieben. Wie viele Mädchen und Jungen müssten das hören und gesagt bekommen.

Die Tochter des Jairus in der Bibel hat keinen Namen. Ich finde, sie muss Zoe heißen. Zoe – Leben, Tochter des Lebens. Und ich stelle mir vor, an ihrem Haus hängt nach der Begegnung mit Jesus fortan das Zeichen des Fisches. Das Geheimzeichen der Christen in den ersten Jahrhunderten.

Die Buchstaben des griechischen Wortes für Fisch, ichthys, stehen für Jesus Christus, Sohn Gottes und Erlöser. Doch Fische haben die Eigenschaft, mit offenen Augen zu schlafen. Sie sind ein besonders geeignetes Zeichen für das Wachsein. Und das spielt in jeder spirituellen Tradition und Sprache eine Rolle. Dass wir erwachen zum Leben und sehen lernen, gehen lernen, lieben lernen.

Es gilt das gesprochene Wort.

20.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen