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Gnade
Altes Wort, neu gefüllt
25.09.2025 06:35
Irgendwann ist das Wort Gnade aus der Alltagssprache verschwunden. Unsere Autorin hat Gnade neu entdeckt als Kraft zur Selbstbehauptung.
Sendung nachlesen:

Wann genau die Gnade fast verschwunden ist aus der Alltagssprache, weiß ich nicht. Aber ich bin auf eine Redewendung gestoßen, in der sie noch ganz lebendig war. "Die Sonne geht zur Gnaden." So heißt es im Grimm’schen Wörterbuch der deutschen Sprache, aus dem 18. Jahrhundert. Wie platt unser "die Sonne geht unter" dagegen klingt.

Die Sonne geht zur Gnaden und strahlt umso heller dann am Morgen. Welche Lebenserfahrung mit der Gnade ist hier erhalten? Für die Augen, die der Sonne folgen am Abend, geht sie zur anderen Seite der Welt. Sie steigt hinab in die Nacht. Und wenn ich der Spur des Sprichworts folge, ist das der Weg, der zur Gnade führt.

Wenn ich den Sonnenuntergang beobachte, ist manchmal auch ein wenig Wehmut dabei, eine kleine Traurigkeit. Es geht etwas zu Ende. Ich muss Abschied nehmen. Von diesem Tag und immer wieder von vielem im Leben. Der Weg in die Nacht steht auch mir bevor, wenn die Sonne geht.

Ihren Weg in die Nacht beschreibt die Schriftstellerin Marica Bodrozic als dramatisches Erlebnis. Sie hat Gewalt erfahren von Mutter und Vater, von anderen Verwandten. Signale wie "dich sollte es am liebsten gar nicht geben". Sie sagt, diese Menschen haben ihr das "innere Figurenkabinett …mit Gewalt beschriftet". Das ist schon lange vorbei. Trotzdem lebt diese alte Welt im Inneren weiter und behauptet immer wieder: Ich bin deine ganze Welt. Ich bin die einzige Wahrheit in deinem Leben.

Dieser Negativität fühlen sich auch Menschen ausgesetzt, die an ihrem Körper unversehrt geblieben sind. Die Signale von außen und aus dem Inneren können trotzdem so sein, dass nur noch Nacht zu sehen ist mitten am Tag.

"Aber ich bin nicht zerstört worden", sagt Marica. "Ich bin immer noch da. Ich bin zu Gnaden getragen worden." Da ist sie wieder, die Gnade. Die Sonne geht zur Gnaden. Ich bin zu Gnaden getragen worden. Wie eine Selbstbehauptung erlebt Marica das. Zunächst den vernichtenden Urteilen nicht zustimmen. Diese Freiheit haben wir. Was andere von mir behaupten, was sie mir einreden wollen, das ist nicht meine ganze Welt. Ich stimme den vernichtenden Urteilen über das Leben nicht zu. Auch denen nicht, die in mir ganz persönlich ihr Unwesen treiben.

Dann kann es sein, dass aus dem eigenen Inneren etwas Neues auftaucht. Andere Gedanken, so wie bei Marica: "Du musst nicht kämpfen, um gesehen zu werden." "Du bist jetzt krank, trotzdem bist du vollständig." "Du bist liebenswert." So erlebt sie das. Wie kleine Vögel fliegen die Gedanken durch die Seele und schaffen etwas Neues in der Dunkelheit. Neue Flugbahnen. Ein Lebensnetz, ein Lebensmuster, "ein liebendes Gefüge", sagt Marica.

Diese Sätze kommen – wer weiß woher? Man kann ihnen nur lauschen wie einer erlösenden, liebevollen Stimme. Ich bin nicht mehr isoliert oder mangelhaft. Ich bin zu etwas hingetragen worden, das ich nicht mache. Das mich aber glücklich und froh macht. "Ich bin zu Gnaden getragen worden."

Eine Freundin hat mir erzählt: Sie war über längere Zeit einer Person ausgesetzt, die mit negativer Kritik auf der Zunge jeder und jedem in ihrer Nähe nachstellte und alle zur Schnecke machte. "Es war für mich eine Gnade", sagt sie, "jeden Tag und manchmal im gleichen Augenblick die Bäume anzuschauen, Jasminduft einzuatmen, den Spätsommerhimmel über mir. Ich hätte das sonst nicht überstanden."  Sie hat Gnade als eine Verbindungskraft erlebt, eine Lebens- und Liebeskraft. Die Kraft, die sie davor bewahrt, sich die Schlechtmacherei zu eigen zu machen. Die Kraft, die ihre Augen für das Schöne öffnet. Die Kraft, die gegen Luftverpester Jasminduft in die Nase wehen lässt.

Auf die Kraft der Gnade setze ich. Vom Aufgang der Sonne und bis sie zur Gnaden geht.

Es gilt das gesprochene Wort.

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