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Mein Besuch der Stadt Şanlıurfa liegt noch nicht lange zurück. Im Oktober erschien die Stadt und das historische Harran, das Gegenstand meiner Reportage wurde, wie eine Oase: Üppig angefüllt mit Geschichte, mit Begegnungen und hoffnungsvollen Ausblicken. Nun liegen Urfa und Harran weitgehend in Trümmern. Das Erdbeben hat unermesslich viele Opfer gefordert. Auch Teile meiner Familie sind davon betroffen, sie haben zum Glück zwar überlebt, aber ihre Stadt ist zerstört, die Wohnungen nicht mehr bewohnbar, das ganze Leben ist aus den Fugen geraten. Die Reportage erinnert an das, was durch das Erdbeben verlorengegangen oder beschädigt worden ist, und lenkt den Blick auf eine Stadt, die nun erst recht Hilfe benötigt.
Es herrscht reges Treiben auf dem Bazar in Şanlıurfa. Es ist ja auch kein kleiner Ort. An die zwei Millionen Einwohner werden der Stadt als Provinzhauptstadt zugeschrieben. Und der Bazar gilt neben dem in Damaskus als der größte im Vorderen Orient. Seine Wurzeln reichen zurück bis ins 16. Jahrhundert. Verwirrend ist der Basar mit seinen unzähligen Gassen, den farbenfrohen Auslagen und den Düften exotischer Gewürze allemal. Dazu kommt die ungewohnte Sprachvielfalt, seit Urzeiten leben hier Türken, Kurden und Syrer. Eine Mischung, die in der Geschichte nicht selten zu Spannungen geführt hat. Und doch ist Şanlıurfa eine Stadt wie aus dem Bilderbuch. Sie wirkt ganz so, wie man sich den Orient vorstellt.
Trotz der Größe und historischen Bedeutung ist Şanlıurfa, oder kurz Urfa wie es meistens genannt wird, im Westen relativ unbekannt. Die türkische Stadt liegt in Mesopotamien, in der Nähe des Euphrats, die syrische Grenze ist nur wenige Kilometer entfernt. Touristen aus dem Westen kommen nur selten hierher, und wenn, dann sind sie auf den Spuren der alten biblischen Orte. Und da hat Urfa einiges zu bieten: Es ist nämlich jener Ort, der zu Recht mit Abraham in Verbindung gebracht wird.
Auch ich bin hierhergekommen, um die Stadt zu entdecken, die als Heimat Abrahams gilt und zur Zuflucht für so viele Gestalten aus dem Alten Testament geworden ist. Auch als das erste christliche Königreich hat Urfa von sich reden gemacht. Der Legende nach soll es sogar einen Briefwechsel zwischen Christus und dem König Abgar gegeben haben.
Etwas verwirrend ist der Wechsel des Namens: früher war die Stadt als Edessa bekannt. Ganz im Mittelpunkt der Geschichte und auch der Gegenwart dieser Stadt steht aber Abraham, der, von dem alles ausgeht, egal ob die Stadt Edessa, Urfa oder Sanlıurfa genannt wird.
Im Alten Testament wird berichtet, wie Abraham auf der Flucht mit seiner Familie nach Harran kommt. Das biblische Harran liegt knapp 40 Kilometer vom Zentrum Urfas entfernt. Dort ließen sich Abraham und seine Frau Sara nieder, dort erhielt er die Weisung, ins gelobte Land zu ziehen. Und dorthin kam auch Jakob zurück, blieb zweimal sieben Jahre, um Lea und Rahel zu heiraten. Der alte Ort Harran ist der Ausgangspunkt für alles weitere.
Heute ist das biblische Harran vor allem für Archäologen interessant: Ein Feld voller Ruinen und Relikten aus der frühislamischen Zeit. Am Rande dieser Kulisse ragt eine Burganlage empor, ihre Mauern sind über die Jahrhunderte immer wieder erneuert und verändert worden. Die Grundmauern sollen aber bis auf die biblische Zeit zurückgehen. Archäologen sind am Werk, um die ganz alten Spuren wieder sichtbar zu machen. Die Anlage ist deshalb geschlossen, aber nachdem ich erkläre, wie weit die Anreise war, gibt es dann doch ein Nachsehen: wir bekommen eine kleine Sonderführung.
Einer der Archäologen erklärt: das Ziel der Ausgrabung sei, die Zitadelle so wieder herzustellen, wie sie im 7. Jahrhundert von den Umayyaden gebaut worden ist. Das Eingangstor und eine Badeanlage konnten schon restauriert werden. Einige Teile weisen sogar in die Zeit davor zurück, als sich hier die Anhänger Abrahams gegen den Kult um den Mondgott Sin durchsetzen konnte. Weil es aus dieser Zeit kaum etwas zu sehen gibt, wurde ein historisches Dorf wieder hergerichtet. Dort können Besucher die legendären Bienenstockhäuser besichtigen. Das Dorf ist durchaus touristisch angelegt, aber mit einiger Fantasie kann man sich gut vorstellen, wie einst Abraham und Sara hier Wasser aus dem Brunnen geholt haben und die Schafe weideten.
Als das biblische Harran schließlich immer mehr verfiel, ging die Tradition von Harran allmählich auf das benachbarte Urfa über. Nun galt Urfa als die Stadt Abrahams. Und weil Abraham derjenige war, der gegen die alten Götzenglauben aufbegehrte und dem Monotheismus zum Durchbruch verhalf, bekennen sich alle drei monotheistischen Religionen zu Abraham als Erzvater – Judentum, Christentum und Islam. Nicht umsonst werden die drei Religionen deshalb auch als abrahamitische Religionen bezeichnet. Kein Wunder also, dass Urfa als die Stadt Abrahams dann auch für alle drei Religionen eine besondere Bedeutung bekam.
Vom Bazar sind es nur ein paar Schritte zur Hauptattraktion von Urfa. Man könnte sich vom Klang leiten lassen, denn ganz allmählich wird das Gemurmel der Straßenhändler ersetzt durch die Rufe der Muezzin. Das spirituelle Zentrum besteht aus einer prächtigen Gartenanlage mit zwei Teichen in der Mitte. Unzählige Karpfen tummeln sich darin. Sehr zur Freude der Besucher, die in Scharen kommen, durch den Park flanieren und die Fische füttern. Die Teiche sind gleich von drei Moscheen umgeben. Eine von ihnen zieht die Aufmerksamkeit der Pilger besonders auf sich. Hier lädt eine Höhle zum Gebet ein, es soll jene Höhle sein, in der einst Abraham gelebt hat.
Auch die Karpfen im Teich stehen mit dem Erzvater in Verbindung: Als Abraham nämlich gegen den Götzendienst protestierte, sollte er - so erzählt es die Legende – auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Wie durch ein Wunder wandelte sich jedoch das Feuer zu Wasser und aus den Holzscheiten wurden eben die Karpfen. Keine Frage, dass diese Fische besonders beliebt sind, stehen sie im Islam doch als Symbol für den Monotheismus und genießen einen heiligen Status.
Auch wenn die Geschichte Abrahams und seiner Familie zunächst im Alten Testament festgehalten wurde und deshalb für Juden und Christen gleichermaßen bedeutend ist: der Abraham, den man heute in Urfa erleben kann, folgt ganz und gar einer islamischen Perspektive. Dr. Osman Öksüzoğlu ist hier in Urfa geboren und aufgewachsen. Er ist Spezialist für die Tradition der Sufis und Dozent an der Marmara Universität in Istanbul. Für ihn ist Abraham, bzw. Ibrahim, unmittelbar mit dem Islam verbunden:
„Ibrahim ist nur einer der Propheten, die Allah für Urfa und den Islam gesandt hat. Ich denke, İbrahim ist das Symbol des Monotheismus für die Stadt Urfa. Zu seinen Lebzeiten akzeptierte Abraham die Einheit Gottes, und erklärte den Götzen den Krieg, und wandte sich nicht von seinem Weg ab, unter der Gefahr, ins Feuer geworfen zu werden und sein Leben zu verlieren.“
Im Koran wird Abraham als „Freund Gottes“ gerühmt (Sure 4, 125,). Alle Menschen, die seinem Bekenntnis zu dem einen Gott folgen, gelten als Anhänger des rechten Glaubens. Im Evangelium der Christen wird Jesus als Nachkomme Abrahams bezeichnet (Mt 1,1); und in der Thora beginnt mit Abraham die Geschichte des jüdischen Volks. So ist eigentlich unbestritten, in Abraham eine Gestalt zu haben, die keinem Volk und keiner Religion exklusiv gehört. Abraham ist für alle Menschen in der Welt geschickt worden. Das ist auch im Islam grundsätzlich Konsens:
Öksüzoğlu: „Wir glauben, dass Abraham der Vorfahre dieser drei Religionen war. Als Muslime glauben wir, dass Abraham sagt, dass es nur einen Gott gibt. Und er hat die Menschen eingeladen, an ihn zu glauben. Moses und Jesus sind Propheten, die für denselben Zweck geboren wurden. Nach islamischem Glauben wurden die Bücher dieser Religionen jedoch im Laufe der Zeit verändert. Infolgedessen sagte es ursprünglich in allen drei Religionen dasselbe, nämlich dass Allah einer ist.“
In dieser Hinsicht bietet sich Abraham als Erzvater geradezu an für den interreligiösen Dialog. Und die Stadt Urfa könnte mit ihrer geschichtlichen Bedeutung zu einem Zentrum der abrahamitischen Gemeinschaft werden. So sieht auch Osman Öksüzoğlu die Chance, Abraham als eine Person zu betrachten, die zwischen den Religionen verbindet, jedenfalls grundsätzlich:
„Natürlich kann der Prophet Abraham eine wichtige Figur dabei sein, die drei Religionen zusammenzubringen. Nach meinem eigenen Glauben, dem Islam, wird dies geschehen, wenn alle, Christen, Juden und Muslime, an die Einheit Gottes glauben. Und wenn sie Moses, Jesus und Muhammad als Propheten akzeptieren, können sie im Verständnis Abrahams zusammenkommen.“
In der konkreten Umsetzung ist es dann aber doch nicht so einfach und bis zum Ziel einer abrahamitischen Ökumene bleibt es ein sehr weiter Weg. Noch ist zumindest in Urfa gar nicht daran zu denken, sich etwa zu gemeinsamen Gebeten zu treffen. Und noch utopischer erscheint der Gedanke, die an Abraham erinnernden Gebäude gar für Gläubige aller Religionen zur Verfügung zu stellen.
Die abrahamitischen Religionen stellen zwar alle den Glauben an den einen Gott in den Vordergrund, aber diesem einen Gott stehen doch sehr unterschiedliche Gottesbilder gegenüber. Der Wunsch nach Harmonie ist wohl vorhanden, aber um dieses Ziel zu erreichen, müssten zunächst die eigenen Vorstellungen von dem einen Gott eben als ein Bild erkannt und respektiert werden, das den anderen Gottesbildern gegenübersteht. Abraham bietet dafür eine gute Grundlage, gerade weil er am Anfang steht, weil er der Ausbildung unterschiedlicher Vorstellungen im Glauben vorausgeht.
Und doch ist es ein Dilemma: Auf der einen Seite steht die Universalität Abrahams, die sich jeder Inbesitznahme durch eine einzige Religion widersetzt; und auf der anderen Seite die jeweiligen Ausgestaltungen der Gottesbilder, die sich zu widersprechen scheinen. In diesem Sinne hat Karl-Josef Kuschel, bis 2013 Professor für interreligiöse Forschung in Tübingen, die Rahmenbedingung für eine abrahamitische Ökumene gezeichnet: eine abrahamitische Gemeinschaft, die durch gegenseitige Anerkennung markiert wird:
„Ein besonderes Gefühl der Zusammengehörigkeit der Kinder Abrahams wird es nur dann geben, wenn alle bereit sind, Schluss damit zu machen, sich als „Ungläubige“, „Abgefallene“, „Überholte“ oder „Defizitäre“ abzuqualifizieren, und wenn sie positiv bereit sind, sich als „Brüder“ und „Schwestern“ im Glauben an den einen Gott Abrahams gegenseitig anzunehmen: den Schöpfer, Erhalter und Richter aller Menschen.“
Und das ist es, was sich mir beim Besuch im abrahamitischen Urfa aufdrängt: Die Erkenntnis, dass sich die unterschiedlichen Wahrheitsansprüche der Religionen nicht auflösen lassen. Einen interreligiösen Dialog in der Tradition Abrahams zu führen bedeutet dann, diese Widersprüche hinzunehmen und zwar im gegenseitigen Respekt. Wenn Abraham der Erzvater ist, wenn Sara und Hagar gewissermaßen die Erzmütter sind, dann sind Juden, Christen und Muslime die Kinder. Geschwister, die sich unterscheiden und die sich streiten, Kinder mit unterschiedlichen Lebenswegen, die sich oft entzweien; und doch haben sie eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames Leben und vor allem: sie haben nur eine gemeinsame Zukunft. Wer sich zu Abraham bekennt, stimmt damit automatisch auch den Geschwistern im Glauben zu und akzeptiert ihre Andersartigkeit.
Der Segen, den Gott einst Abraham und seiner Familie zugesprochen hat, gilt dann allen, Juden wie Christen und Muslimen: „ich will segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein!“ (1 Mose 12,2).
So gesehen ist Urfa eine Stadt nicht nur mit einer besonderen Geschichte, sondern erst Recht mit der Herausforderung einer großen Zukunft.
Es gilt das gesprochene Wort.
Spendenaufruf Erdbeben:
Şanlıurfa liegt im Gebiet des katastrophalen Erdbebens in der Türkei und Syrien, dieser Beitrag entstand kurz zuvor. Wir bitten sehr um Unterstützung für die Erdbeben-Gebiete. Mögliche Hilfsorganisationen finden Sie z.B. auf der Seite der EKD:
https://www.ekd.de/hilfsorganisationen-rufen-zu-unterstuetzung-fuer-erdbeben-77373.htm
Musik dieser Sendung:
- Hasan Esen (Kemençe), Ihsan Özer (Kanun): Neva Taksim (Trad.), CD-Titel: One God – Psalms an Hymns from Orient & Okzident, Track Nr. 11.
Literaturangaben:
- Karl-Josef Kuschel: „Leitbild für die Menschen“ Worauf Abraham Juden, Christen und Muslime verpflichtet. In: RU Heute, 2/2012/ S. 18.
- Abraham und der Glaube an den einen Gott. Beschluss der Landessynode der Ev. Kirche im Rheinland. 2009.