Ärger

Morgenandacht
Ärger
06.10.2016 - 06:35
06.10.2016
Pfarrerin Silke Niemeyer

Nichts ist ärger als Ärger. Dieser Ärger, der in den Eingeweiden rollt und in der Kehle beißt, der Frust, der die Lust weckt irgendetwas kaputt zu machen. Und wenn der Ärger ganz arg wird, dann kann er sich in Mordlust verwandeln.


Kain, der Brudermörder, ist der Prototyp des Menschen, der von einem solchen Mordsärger erfasst wird. Und das kommt so: Kain ist Ackerbauer und opfert für Gott Früchte. Sein Bruder Abel ist Schafhirt und opfert für Gott ein Lamm. Gott beachtet nur Abel und nicht Kain. Warum auch immer. Genauso ist es oft im Leben: Das Schicksal ist ungerecht. Man fühlt sich nicht beachtet. Der andere kommt besser weg. Einfach so, weiß der Himmel warum. Warum der und nicht ich? Man ist tief gekränkt. Mit diesem Frust muss jeder irgendwann mal irgendwie zurechtkommen.


Kain kommt damit nicht zurecht. Und begeht das größte Unrecht. Er bringt seinen Bruder um. „Kains Gesicht fiel“, heißt es im Text. Der Ärger drückt so, dass man den erhobenen und ungetrübten Blick verliert. Mit Röhrenblick schaut man nur noch auf die Kränkung. Gott spricht Kain an: Warum entgleiten dir deine Gesichtszüge? Wenn dir Gutes gelingt, schaust du doch stolz; wenn dir aber nichts Gutes gelingt, lauert die Sünde an der Tür.
Kain ist nämlich jemand, den es besonders wurmt, wenn er sich benachteiligt fühlt. Ist er doch eigentlich derjenige, der mit stolzem Blick geht und die Blicke auf sich zieht. Kain ist der Erstgeborene, der Erbe. Der hebräische Name „Kain“ stammt von dem Wort für „erwerben“. „Kain“ kann man mit „Besitzer“ übersetzen. Kain ist der stolze Habewas. Abel dagegen ist der Habenichts, sein Name heißt übersetzt „Nichts“ oder „Hauch“. Er ist das arme Würstchen, das Nichts-chen (1). Und ausgerechnet dieses Nichts-chen bekommt Gottes Beachtung, und nicht er, Kain, der natürlich Privilegierte.


Kains Kränkung erleben derzeit viele weiße Männer in den USA. Das zeigt die jüngst dort erhobene Ärger-Statistik. 73 Prozent von ihnen geben an, dass sie sich mindestens ein Mal am Tag ärgern. Bei den Schwarzen sind das erstaunlicherweise nur 56 Prozent. In einem Bericht über die Trump-Wähler mit dem Titel „Die Leiden des weißen Mannes“ ist zu lesen: „Es gab eine Zeit, da konnten sich weiße Männer in Amerika allein deshalb gegenüber Frauen und Minderheiten überlegen fühlen, weil sie weiße Männer waren. Verflogen.“ (2) Sie empfinden dies als Gesichtsverlust und ihr Gesicht fällt. Es gibt unter Männern der weißen Mittelschicht eine Art Kain-Syndrom. Millionen weißer Männer, die in Fabriken arbeiteten, erlebten ihren Abstieg. Sie verloren ihre Jobs, sie verloren sogar ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt. Ihre Löhne und ihre Lebenserwartung nahmen ab. Ihr Frust nahm zu. Ich fürchte, dieses Kain-Syndrom findet man auch hierzulande, und Schadenfreude darüber ist ganz und gar nicht angesagt. Keiner will so etwas erleben. Und manche reagieren wie Kain.


Kain wollte nicht mehr der Hüter seines schwächeren Bruders sein und erschlug den Abel.


Heutige Kains schlagen mit Worten um sich und wählen antiliberal, aber manche begehen auch Anschläge. Moralische Belehrungen gehen ins Leere. Selbst Gott konnte Kain nicht erreichen mit seiner Mahnung. Wie rettet man Abels Leben?


Es gibt Anti-Gewalt-Programme für Jungen und junge Männer wie Kain, die ihnen helfen, besser mit Frust zurecht zu kommen. Gute Sache. Klug ist es jedoch, von vornherein darauf zu achten, dass keiner sich abgehängt und unbeachtet fühlt. Hellsichtig ist nicht eine Gesellschaft, die stolz ist auf ihre schwarze Null. Hellsichtig ist eine Gesellschaft, die dafür sorgt, dass Menschen sich nicht ins gesellschaftliche Abseits gestellt fühlen und ihr Gesicht verlieren. Denn das ist der Keim zur Gewalt gegen den schwächeren Menschenbruder. Das lehrt Kains Geschichte.

 


(1) http://www.arbeitsstelle-kokon.de/node/90

(2) http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/krise-der-weissen-amerikaner-14364632.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

06.10.2016
Pfarrerin Silke Niemeyer