Wut

Morgenandacht
Wut
14.11.2020 - 06:35
12.11.2020
Silke Niemeyer
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum nachlesen: 

 

Mit sichtlicher Vorfreude und sprungbereit steht sie vor der dreckigen Pfütze, da ertönt die strenge Mutterstimme: „Lisa, lass das! Sonst wird die Mama ganz traurig!“ Am liebsten würde ich der Kleinen zurufen: „Ach was, Lisa, deine Mama wird nicht traurig, wenn du reinplatschst. Sie wird stinkwütend.“

 

Fast jeder hat verbotene Gefühle in sich. Aber das Verbieten geht nicht plump. Man ersetzt ein Gefühl durch ein anderes, zum Beispiel Wut durch Traurigkeit. Das geht übrigens auch umgekehrt. Wer die Traurigkeit so bedrohlich oder peinlich findet, dass er sie nicht aushält, münzt sie manchmal um in Wut und keilt gegen alles und jeden.

 

Die Wut jedenfalls hat es nicht gut. Keiner mag sie leiden. Sie ist unsympathisch. Traurigkeit ist sympathischer als Wut. Ein Wüterich ist abstoßend und böse. So wie der böse Friedrich im Struwwelpeter-Buch:

 

Der Friederich, der Friederich, 

Das war ein arger Wüterich! 

Er fing die Fliegen in dem Haus 

Und riss ihnen die Flügel aus. 

Er schlug die Stühl' und Vögel tot 

Die Katzen litten große Not. 

 

So ein Friedrich oder eine Friederike möchte niemand gern sein, schon gar nicht, wenn man christlich eingestellt ist. Da heißt es Mäßigung, Sanftmut und Geduld. Wut gehört nicht zum Repertoire der christlichen Gefühle und Tugenden. Leider, denn Jesus selbst ist auch mal ein arger Wüterich geworden. Als er sieht, dass im Tempel die Geldwechsler und Händler schalten und walten, fährt er aus der Haut. Er veranstaltet Tumult, stürzt ihre Tische um, wirft ihre Münzen durch die Gegend und ruft: „Schafft das weg und macht das Haus Gottes nicht zur Markthalle.“

 

Heute würde man ihn vielleicht einen Wutbürger nennen. Der Begriff feiert in diesem Jahr zehnjährigen Geburtstag. Als Wutbürger wurden damals die Leute etikettiert, die in Stuttgart gegen den Bau des neuen Mega-Bahnhofs protestierten – um ihre Kritik abzuwerten. Der Wutbürger hat dann Karriere als Wort des Jahres gemacht, und Gruppen von bösen Friedrichs und Friederiken haben sich den Begriff wie einen Orden angeklebt, um so richtig ihren Hass rauszulassen und dabei noch bürgerlich zu wirken, wutbürgerlich eben.

 

Wut ist so gut und schlecht wie andere Gefühle. Sie kann göttlich, sie kann eine Kraft des Heiligen Geistes, sie kann heiliger Zorn sein, wenn man das Unrecht einfach nicht erträgt. Wut ist eben nicht immer blind, wie es ihr nachgesagt wird. Sie sieht oft genauer hin als andere und hält den Anblick nicht aus, so wie Jesus den Anblick des Treibens im Gotteshaus nicht aushielt.

 

Wut ist gut, aber es muss irgendwann auch mal wieder gut sein mit der Wut. Sie ist schlecht, wenn sie zur selbstgefälligen Pose und zum Selbstzweck wird. Sie wirkt regelrecht lächerlich, wenn sie gockelhaft daher stolziert und nach links und rechts Kikeriki schreit. Mit dem bitterbösen Friederich, der sich immer mehr hineinsteigert in seine Wut, geht es so aus: „Da biss der Hund ihn in das Bein, recht tief bis in das Blut hinein.“

 

Darum sollte man dem klugen biblischen Rat folgen: „Zürnt, aber sündigt nicht. Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.“ (Eph 4, 26) Ich finde den Satz wunderbar klug – mal die spitzfindige Unterscheidung von Wut und Zorn beiseitegelassen. Du darfst, du sollst sogar wütend werden, das muss man, wenn man nicht gleichgültig oder zynisch ist. Ich kann mir keinen Menschen mit Leidenschaft, keine gute Lehrerin, keinen guten Politiker, keine gute Mutter, keinen guten Pfarrer vorstellen, der oder die nie wütend wird. Aber pass auf, dass du dich nicht von der Wut verschlingen lässt, sie nicht zu blankem Hass verkommt. Du kannst dich den ganzen Tag aufregen, aber du hast nicht die Pflicht dazu. Fast immer hast du noch einen Moment Zeit innezuhalten und zu entscheiden, ob du dich der Wut hingibst oder tief durchatmest.

 

Aber wenn sie dich überkommt, dann bleib aufrichtig und tu nicht so, als wärst du traurig.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

12.11.2020
Silke Niemeyer