Die stille Stube

Wort zum Tage
Die stille Stube
04.05.2020 - 06:20
30.01.2020
Kathrin Oxen
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Die Bäume stehen im schönsten Maigrün. Außer dem Singen der Vögel ist nur das Knirschen und Klappern der Pferdehufe auf dem unbefestigten Weg zu hören. Gemächlich rumpelt der Reisewagen im Thüringer Wald zwischen Möhra und Gumpelstadt dahin. Der einzige Insasse der Kutsche döst nicht etwa vor sich hin, sondern sitzt in gespannter Erwartung im Wagen. Gleich muss es soweit sein. Hier am Glasbachgrund werden sie den Wagen anhalten, ihn herausholen und gefesselt mitnehmen. Der Kutscher kommt ungeschoren davon. Ein fingierter Überfall mitten im Wald.

 

Was sich anhört wie eine Szene aus einem Historiendrama, ist heute vor 499 Jahren wirklich passiert. Martin Luther wurde auf dem Weg vom Reichstag in Worms zurück nach Wittenberg überfallen und auf die Wartburg gebracht. Eine sorgfältige Inszenierung seines Landesherrn, Friedrichs des Weisen, um ihn dem Zugriff seiner Verfolger zu entziehen. Der Preis für seine Sicherheit: Fast ein Jahr lang musste Luther alleine hoch oben auf der Wartburg verbringen, „bei den Vögeln“, wie er es selbst genannt hat. Er sah die Bäume bunt werden und kahl und wieder grün, ehe er wieder freikam. Die Zeit seiner erzwungenen Isolation hat er genutzt, um in seiner stillen Stube mit den Wänden aus Holzbohlen das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen. Eine der größten Taten seines an reformatorischen Großtaten nicht eben armen Lebens.

 

Ich war schon auf der Wartburg, in seiner stillen Stube. Ich habe aus seinem Fenster die Bäume gesehen und mich gefragt: So bei sich zu sein, nur mit der Heiligen Schrift beschäftigt – hat er das eigentlich gemocht oder hat er das bloß ertragen?

Von Martin Luther in seinen späteren Jahren kann man den Eindruck gewinnen, er habe die Tür zu dieser stillen Stube energisch zugeworfen, als er die Wartburg verließ. Als sei ihm nur die trutzige Wartburg in Erinnerung geblieben, als er wütete und polterte gegen alle echten oder vermeintlichen Gegner, die Bauern, die Türken, die Juden. Und manchmal wünsche ich mir, jemand hätte ihn noch einmal mit der Bibel in so einer Stube eingeschlossen. Für ein paar Wochen wenigstens. Und ich denke: Auch wenn in meinem Leben manchmal viel Burg sein muss – die Tür zu einer stillen Stube in mir muss offen bleiben.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Kathrin Oxen