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"Gott ist groß", ertönt es über den Dächern Jerusalems. Ich stehe auf dem Dach des österreichischen Hospizes, einem christlichen Gäste- und Pilgerhaus im muslimischen Teil der Jerusalemer Altstadt, und höre dem Ruf des Imam der Moschee gegenüber zu: "Gott ist groß". Ich kann die goldene Kuppel des Felsendoms sehen und gleich dahinter die Al-Aqsa-Moschee, heilige Orte im Islam. Von hier aus soll der muslimische Prophet Muhammad in den Himmel aufgefahren sein. Jüdinnen und Juden glauben, dass an diesem Ort ihr Stammvater Abraham seinen Sohn Isaak gebunden und beinahe geopfert hat (Gen 22,1-19).
Die vergangenen neun Monate habe ich in Jerusalem gelebt und dort an der Hebräischen Universität studiert. Ich habe viel erlebt und gesehen, mich mit Menschen aus Ost- und Westjerusalem angefreundet, mit Israelis und Palästinensern. Einer von ihnen ist Amir. Der
33-jährige Palästinenser aus Ost-Jerusalem gibt mir und einer Hand voll weiterer Touristen eine Tour auf dem Tempelberg. "Willkommen am kompliziertesten Ort der Welt", begrüßt er uns. Vor zweitausend Jahren stand hier der jüdische Tempel, in dem nach christlicher Überlieferung der zwölfjährige Jesus gebetet hat (vgl. Lk 2,41-51). Das letzte Mal war Jesus hier zum Pessachfest, kurz vor seiner Hinrichtung (vgl. Lk 21,37). Im Jahr 70 wurde der Tempel von den Römern zerstört. Im 7. Jahrhundert ließ der umayyadische Kalif Abd al-Malik den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee bauen.
Mit unserem Guide Amir kommen wir sogar in die heiligen Gebäude hinein. Normalerweise ist der Zugang nur für Muslime vorgesehen. In der Al-Aqsa-Moschee deutet Amir auf ein zerbrochenes Fenster. Das bunte Glas ist zersplittert, durch die Zacken scheint Licht hinein.
Immer wieder kommt es auf dem Tempelberg zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und dem israelischen Militär, zuletzt am sogenannten Jerusalem-Tag Ende Mai, an dem jüdische Israelis die "Wiedervereinigung" Jerusalems im Sechs-Tage-Krieg 1967 feiern.
Amir sagt, Jerusalem sei nicht wiedervereinigt, der arabische Ost-Teil der Stadt sei seit über 50 Jahren von Israel besetzt. Er wohnt in Silwan, einem Stadtteil, in dem fast alle seine Nachbarn einen Abrissbefehl ihrer Häuser vom israelischen Staat erhalten haben. Er erzählt von Ausweiskontrollen, Checkpoints, ständigen Provokationen durch jüdische Siedler und das israelische Militär.
Als ich den Tempelberg verlasse, komme ich an einem Mann mit Kippa und Kinderwagen vorbei, bewacht von zwei israelischen Soldatinnen. Er wirft sich auf den Boden, küsst die hellen Steine, betet und singt.
Ich frage mich: Kann es derselbe Gott sein? Der, für den sich dieser fromme Jude vor dem Felsendom auf den Boden wirft; und der, den der Imam vom Minarett aus besingt? An welchen Gott glaube ich? In der Bibel ist immer wieder vom "Gott des Friedens" die Rede (Römer 15,33). An den möchte ich glauben.
Es gilt das gesprochene Wort.