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Anna hat lange dagesessen und nachgedacht, mehrere Versuche geschrieben, zerknüllt und weggeworfen. Sie musste einfach der Kollegin schreiben. Der Chef hatte gesagt: ‚Ihr lasst die Kollegin jetzt erst einmal in Ruhe.‘ Aber sie glaubte, dass der Chef schlicht Schiss hatte.
Was soll man auch einer Kollegin schreiben, die ihr Kind verloren hat? Auf tragischste Weise?
Alle können es nicht fassen, dass der Junge ums Leben gekommen ist. Und sie fühlen so mit. Die meisten waren auf der Beerdigung, einige hatten sich nicht getraut, „viel zu emotional“.
Anna hatte sich an die Order nicht gehalten, „erst einmal in Ruhe lassen“. In solchen Tagen darf man nicht schweigen, kann sie nicht schweigen. Selbst wenn es keine berauschenden Sätze werden würden – sie wollte zeigen: ‚Wir sind für dich da. Wir denken an dich. Wir haben keine großen Worte. Wir fühlen mit dir. Wenn es irgendetwas gibt: Melde dich. Wir alle helfen dir mehr als gern.‘
Es kam ihr so dürftig vor. Man braucht doch da ganz andere Worte, dachte sie.
Da geht es doch um alles. Um mehr als das eigene Leben. Da braucht man etwas, das einen über dem Abgrund hält, dass man nicht fällt und fällt. Etwas sehr Starkes. Worte wie Stahlseile. Welche könnten das sein?
Die Liebe kann in Sekundenschnelle Netze bauen – so hatte sie es sinngemäß mal in einem Lied gehört. Das würde sie gerne können. Netze bauen mit Worten und Gesten. Die Kollegin auffangen. Sie, ihren Mann, die Schwester. Die Großeltern, die Nachbarn, die Mitschülerinnen und Mitschüler, die zur Beerdigung gekommen waren, Lehrerinnen, Lehrer, Jungs vom Sportverein, das ganze Dorf.
Anna hatte auch geweint in der Kirche. „Heute ist Weinen erlaubt“, hatte die Pastorin gesagt.
Und dann die Worte vorgelesen, die manche noch kannten. Von dem einen, der durchs finstere Tal wandert und kein Unglück fürchtet. Der einen Stock hat, auf den er sich stützen kann. Eine Krücke von Gott.
Sie kannte es in den alten Worten – Dein Stecken und Stab trösten mich.
Die Pastorin benutzte andere, neuere. Anna verstand. Ein bisschen wenigstens. Irgendwie tat es gut.
Manchmal helfen diese uralten Worte, die vor Jahrhunderten schon der Stecken und Stab waren, der andere getröstet hat.
So wollte Anna auch gerne sprechen können. Mit eigenen oder fremden Vokabeln. Und der Kollegin eine Krücke sein, mit der sie wenigstens ein, zwei Schritte vorankommen kann. Und dann wieder ausruhen.
Nur, dass sie nicht fällt.
Eine Krücke von Gott, bis der Fuß wieder seinen Weg findet.
Es gilt das gesprochene Wort.