Was Brechts Marie A. mit der Himmelfahrt des Herrn J. zu tun hat
Sendung nachlesen:
"An jenem Tag im blauen Mond September / Still unter einem jungen Pflaumenbaum / Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe / In meinem Arm wie einen holden Traum. / Und über uns im schönen Sommerhimmel / War eine Wolke, die ich lange sah / Sie war sehr weiß und ungeheuer oben / Und als ich aufsah, war sie nimmer da."
Für mich kann es nicht September werden ohne dieses Gedicht von Bertolt Brecht, "Erinnerung an die Marie A.". Ein Liebesgedicht für den "blauen Mond September", stimmungsvoll, einfach und ein bisschen melancholisch. Eine Erinnerung an einen Nachmittag unter Bäumen, auf der Wiese, die Liebste im Arm oder im Arm des Liebsten. Einmal einverstanden sein mit der Flüchtigkeit von allem, mit der Schönheit der Wolke, die sich im Schweben schon auflöst an ihren Rändern hinein ins Blaue und die man ohne Bedauern oder Kummer davonschweben sieht.
Marie A. und Herr J.
Für mich ist dies auch ein Gedicht über die Himmelfahrt Jesu. Der Tag dafür war zwar im Mai und nicht im September. Aber die Wolke verbindet das Gedicht über die Marie A. und die Himmelfahrt des Herrn J., diese schwer nachzuvollziehende Geschichte davon, wie die Jünger auf diesem Berg mit dem Herrn J. standen und Abschied in der Luft lag. Verhangen hätte der Himmel eigentlich sein müssen an so einem Tag, bedrückt und geduckt wie sie selbst. Aber stattdessen segelte eine Wolke heran, sehr weiß und ungeheuer oben, und nahm den Herrn J. einfach mit.
Immer hatte der Herr J. etwas anderes vor, als das, was man sich von ihm wünschte oder sich von ihm gedacht hatte. So wie jetzt auch. Er wollte nicht bei ihnen bleiben und werden wie jeder beliebige alternde Sektenführer. Er wollte sich nicht langweilen mit den immer gleichen Gesichtern und den alten Geschichten und der Gewohnheit, die entsteht, wenn man sich zu gut kennt, die Gewohnheit, die manchmal die Liebe ersetzt. Er ging weg, der Herr J., weil er nicht sein eigenes Denkmal werden wollte und von der Vergangenheit leben wie von einem Vorrat, der sich doch irgendwann aufbraucht. So wäre es bestimmt gekommen.
Aber ich kenne ihn noch, den Herrn J., und viele mit mir. Und wir werden ihn immer kennen. Und zwar deswegen, weil er nicht mehr bei uns ist, paradoxerweise. Weil er mit dieser Wolke gegangen ist, sehr weiß und ungeheuer oben. Weil er nicht mehr unter uns ist, sondern oben, ungeheuer oben sogar, zur Rechten Gottes und unter uns zugleich. Denn diese Wolke blühte nur Minuten. Aber die Erinnerung an den Herrn J., die bleibt für immer.
Es gilt das gesprochene Wort.
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