Sendung zum Nachlesen
Mächtige leben gefährlich. Das ist eine gute Nachricht, findet das Mädchen. Vierzehn Jahre ist sie ungefähr alt. Schwanger. Nicht von dem Mann, den sie heiraten wird. Sie singt ein wildes Lied, diese werdende Mutter. Vielleicht macht ihr das Singen Mut. Ihr Lied stellt alle in Frage, die Macht ausüben. Die großen und die kleinen Mächtigen. Gott nimmt den Mächtigen ihre Macht weg, singt Maria, und gibt sie den Machtlosen. Das ist der Clou. Denn wenn die ohne Macht erst mächtig sind, wird Gott immer noch auf der Seite der Machtlosen stehen. Gott ist parteiisch. Der Gott jedenfalls, von dem dieses Mädchen singt.
Schon vor der Geburt ihres Kindes, das später als Jesus von Nazareth weltberühmt wird, swingt im Lukasevangelium dieses alte Lied von der ewigen Kritik an den Mächtigen. Gesungen von einem aramäischen Teenager. Eine Mädchenstimme, die bis ins 21. Jahrhundert klingt: „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ So klingt es aus dem Neuen Testament. In diesem Nachhall vibriert das christliche Abendland. Das Lied der Machtlosen.
Als Maria singt, vor 2000 Jahren, können Mächtige vom Volk nicht abgewählt werden. Man widerspricht ihnen besser nicht. Die Sklaverei ist wirtschaftlich ähnlich unverzichtbar wie für uns der automobile Individualverkehr. In Marias Welt leben 90 Prozent der Menschen in bitterer Armut. Kein Sozialstaat nirgends, Mittelschicht unbekannt. Aber Mächtige, denen das gleichgültig ist. Die ihren Wohlstand für normal halten. In Ewigkeit. Amen. In dieser Zeit fasst Lukas eine junge Frau in Worte, und lässt sie vom Ende dieser Normalität singen. Lässt sie singen von einer Wirklichkeit, in der Armut nicht dasselbe Wort ist wie Abschaum oder Abstieg. In der Herkunft und Zukunft nichts miteinander zu tun haben. In der Gottes Macht nicht mit den Reichen und Schönen ist. Lukas schreibt Maria Mut in die Seele, nachzulesen im ersten Kapitel seines Evangeliums. Sie singt für sich und ihr ungeborenes erstes Kind. Es singt in ihr. „Guter Hoffnung sein“ heißt auch: An eine bessere Welt glauben.
In der Weltsprache Griechisch, in der dieses kühne Lied gedichtet wurde, gibt es zwei Worte für Armut. Das Wort „pénes“ beschreibt den materiellen Mangel, wogegen das gebräuchlichere „ptochós“ Bettelarmut bezeichnet. Bettelarm sind Menschen, die unter dem Existenzminimum leben. Über 90 Prozent der Bevölkerung gehörten zu dieser Unterschicht. Kleinbürgertum gibt es gar nicht, von ihm kann niemand singen. In eine Mittelschicht kann niemand aufsteigen, sie ist noch Jahrtausende entfernt. Es gibt Superreiche, es gibt Arme, die klar kommen, und es gibt das Heer der Anderen. Schuldsklaven, Tagelöhner, Kinderarbeit, Prostitution aus Not – all das ist alltäglich, in den neutestamentlichen Texten liest man davon. In diese Wirklichkeit singt Maria: „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“
Es ist ein altes Lied, das bis ins 21. Jahrhundert klingt. Viel älter als „Die Gedanken sind frei“, „Die Internationale“ oder „All you need is love“. Weder Kampflied, noch Marsch. Keine Menschenmassen schmettern hier, keine Barrikaden werden gestürmt. Ein schwangeres Mädchen singt. Zart, zerbrechlich, zäh. Ich stelle mir einen hellen Sopran vor. Wer Macht ausübt, muss mit Widerspruch rechnen. Wer Macht missbraucht, erst recht. Ob auf dem Präsidentensessel, im Vorstandsbüro, im Jobcenter, auf der Kanzel, in der Familie. Maria singt ihr Lied heute in mehr als 640 Sprachen auf der ganzen Welt. Niemand wird diesen aramäischen Teenager zum Schweigen bringen: „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron“, singt Maria. Sie ist guter Hoffnung.