Wort zum Tage
Ein bisschen Fleisch
22.12.2016 05:23

Früher gehörte zum Weihnachtsbaum auch das Weihnachtsgedicht, das die Kinder vor der Bescherung aufsagten. „Markt und Straßen stehn verlassen“ oder „Von drauß vom Walde komm ich her...“ Zeilen, die wohl Vielen noch in den Ohren klingen und mit kindlichen Weihnachtsgefühlen verbunden sind. Heute wird wohl meistens ohne Gedicht gefeiert, aber heute morgen will ich Ihnen ein Weihnachtsgedicht zumuten. Es ist ein modernes Gedicht, es handelt vom Christkind, aber ganz anders als gewohnt. Paul Konrad Kurz hat es geschrieben und ihm den Titel gegeben: Das Bündel Gottes:

 

Ein bisschen Fleisch, kaum anzufassen./ Die Augen noch geschlossen. /Das bisschen Brust zerbrechlich/ und eingepackt in Schlaf. Ein Nacktes wie lämmernackt /und sperlingsnackt im Nest. Ein Wurm zum Wickeln/ für eine Mädchenmutter, /die kniet und wieder kniet/ und es nicht fassen kann, das Bündel Gottes.

 

Für mich sind es diese Zeilen, die jedenfalls im Geiste mit in ins Weihnachtszimmer gehören. Sie öffnen mir die Augen für etwas, was ich sonst gar nicht genau sehe, wenn ich von der Menschwerdung Gottes höre oder auch nur einfach vom Christkind. Es ist nicht die Plastikpuppe, die in der Kirche in der Krippe liegt. Es ist auch nicht irgendeine abstrakte Lichtgestalt. Es ist ein Neugeborenes, sieht aus wie ein Neugeborenes, fühlt sich an wie ein Neugeborenes. Winzig, nackt, ein wenig zerknittert – und gerade so einfach vollkommen. Wer so ein Neugeborenes im Arm hält oder auch nur anschaut, muss schon sehr unglücklich sein, um ungerührt zu bleiben. Die Meisten können doch gar nicht anders als innerlich niederzuknien vor dem Zauber, der von dem Lebenswunder ausgeht, dem so wunderbar gemachten, kleinen Menschenleib. Noch denkt keiner daran, dass dieser Winzling erzogen werden muss, gefördert und gefordert, integriert und angepasst, dass schließlich mal was aus ihm werden muss. Noch ist sein bloßes Dasein kostbar, ein Geschenk, das die Herzen derer öffnet, die es anschauen dürfen. Sie wollen nichts von dem neugeborenen Leben, sie wollen es nur hüten und lieben. Ja, man muss sich nur vorstellen, dass es um ein echtes Neugeborenes geht, dann ist der weihnachtliche Freudenruf gar nicht schwer zu verstehen: Euch ist ein Kind geboren. So denke ich mir: Es würde wohl behutsamer in den Weihnachtszimmern zugehen, wenn dieser nackte, zarte Winzling mit dabei sein dürfte. Wenigstens im Gedicht. Was uns dann auch daran erinnert: So haben wir alle mal angefangen. So winzig. So kostbar. So menschlich.

 

Nachweis: Paul Konrad Kurz, Das Bündel Gottes, in: 'Denn er ist da', Franz Ehrenwirth-Verlag