Gegenan glauben: Senfkorn

Morgenandacht
Gegenan glauben: Senfkorn
16.04.2020 - 06:35
30.01.2020
Claudia Aue
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Fliegende Maulbeerbäume, Kamele durch Nadelöhre, sich vermehrende Brote. Manchmal kommt der Glaube in etwas aberwitzigen Bildern daher. Diese Bilder können beflügeln. Aber jetzt, in dieser nachösterlichen Corona-Zeit, fallen sie mir schwer.

Es gibt zum Beispiel das Bild von einem Senfkorn, das Großes kann. In der biblischen Geschichte heißt es: Der Glaube hat die Kraft, einen Maulbeerbaum zu entwurzeln und ins Meer zu verpflanzen - und zwar selbst dann, wenn der Glaube so klein ist wie ein Senfkorn. So schreibt es Lukas in seinem Evangelium. (Lk 17,5-6).

Wie soll ich mir das vorstellen? Maulbeerbäume werden bis zu 15m hoch. Und solch ein Baum fliegt durch die Lüfte, seine Äste von sich gestreckt, die Wurzeln stromlinienförmig hinterher, bis er im Meer landet… und dort? Versinkt er im tosenden Ozean, schwimmt auf einer glatten Wasseroberfläche - oder treibt im Meer, irgendwie, neue Wurzeln? Auf jeden Fall malt Jesus den Jüngern ein phantasievolles Bild: Senfkorn gegen Maulbeerfeigenbaum – und das kleine Glaubens-Senfkorn lässt den Maulbeerbaum fliegen. Augen zu und einmal vorstellen: ein phantastisches Bild.

Aber funktioniert das auch? Kinder haben damit kaum Probleme: Grüne Elefanten, lila Sonnen, fliegende Maulbeerbäume. Alles kann passieren. Alles kann wieder gut werden. Egal, wie groß die Krise ist. Und Kinder zu Zeiten des Bibeltextes konnten sich das erst recht gut vorstellen: denn ein Senfkorn war damals sprichwörtlich. So dass man öfter sagte: etwas ist „klein wie ein Senfkorn“. Jedes Kind wusste, wie so ein Körnchen aussieht, nämlich wie ein „fast Nichts“. Wir Erwachsenen kennen Senfkörner wenigstens aus dem Glas mit Gewürzgurken.

Den Maulbeerfeigenbaum kannte jede*r in biblischen Zeiten. Wer eine Maulbeerfeige pflanzte, musste mindestens 25 Meter Abstand zum Brunnen des Nachbarn einhalten. Sonst hätten die Wurzeln Nachbars Brunnen kaputt gemacht. So fest im Boden verankert: auf so einem starken Baum ließ es sich prächtig klettern. Auf der einen Seite also: Das winzige Senfkörnchen. Und auf der anderen Seite: Der mächtig-starke Maulbeerbaum.

Ich wünschte mir gerade in diesen Tagen so einen Glauben, der Bäume versetzen kann. Berge weichen und Hügel hinfallen lassen kann. Das gelang mir schon vor Corona nur schwer. Aber mir fallen gleich eine ganze Reihe von Menschen ein, die offensichtlich daran glauben, dass jeder und jede mitwirken kann an Größerem: Pfleger, die bis zur Erschöpfung für die Patient*innen kämpfen. Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ bei den Flüchtlingen auf Lesbos; die vielen, die mitmachen bei Spendenaktionen für Künstler… Und nicht zuletzt auch die Nachbarn, die sich gegenseitig helfen – aufmerksamer und rücksichtsvoller als je zuvor. Sie alle wirbeln zum Teil über ihre eigenen Grenzen hinaus – auch, wenn es sich manchmal mehr nach Windmühlen oder Hamsterrad anfühlen mag als nach Senfkörnern, die Bäume fliegen lassen können.

Und diese vielen, sie machen weiter, auch, wenn manches unmöglich erscheint. Oder nicht messbar. Jeden Tag schaue ich mir ein Video von der jungen Siri an, die in Amsterdam am offenen Fenster für ihre 90jährige Nachbarin singt. Im Hintergrund sieht man die Autos flitzen - aber die Töne fliegen sicher durch die Luft und zu der alten Dame. Und ich stelle mir vor, dass sie lächelt.

Eine ähnliche Idee hatten Erzählkünstler: Sie haben um Ostern herum „Geschichten für Stubenhocker“ erzählt. Jeden Tag gab es um 17 Uhr eine halbe Stunde lang Geschichten live und in Farbe per Video-Meeting oder Zoom. Ihre Idee: Wenn Menschen zu Hause sitzen müssen, wollen wir Hoffnungsgeschichten in die Häuser bringen. Erzählt wurden klassische Märchen, Weisheitsgeschichten und biblische Geschichten für Kinder und Erwachsene – Geschichten, die davon erzählen, dass das Leben stärker ist als der Tod.

Diese vielen Beispiele – das sind schon eine ganze Menge Senfkörner. Sie machen mir Mut. Und ich hoffe, sie schlagen tiefe und kräftige Wurzeln für unser Miteinander. Auch über die Krise hinaus.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Claudia Aue