Prä-faktische Zeiten

Morgenandacht
Prä-faktische Zeiten
28.11.2016 - 06:35
24.11.2016
Pfarrerin Sandra Zeidler

Jetzt beginnt der Advent. Die erste Adventswoche. Wie schön! Ich freue mich alle Jahre wieder auf diese Zeit. Kurz vorher erschrecke ich noch: Was?! Schon wieder ein Jahr rum?! Aber bevor ich in Schwermut verfallen kann ist er da, der Advent und rettet mich. Das ist so eine besondere Zeit, mit Plätzchen und Lebkuchen und Tee trinken am Sonntagnachmittag, draußen ist schreckliches Wetter, drinnen rote Kerzen. Ich weiß nicht, ob das ein Rückzug ist angesichts der Weltlage. Vielleicht braucht man das gerade jetzt. Ein verlässliches Ritual. Die gleichen Abläufe. Die bekannten Lieder. Etwas, das sich so schnell nicht ändert. Denn dann stellen sich wieder die guten alten Gefühle ein: Geborgenheit, ein bisschen Sehnsucht, Behütetsein.

 

Das passt eigentlich zu dem, was jetzt viele sagen, nämlich: das wir in einem „postfaktischen Zeitalter“ leben. Das meint: Die Fakten zählen nicht mehr, allein die Gefühle sind wichtig. Tatsachen können getrost ignoriert werden, wie ich mich fühle, wie ich die Welt empfinde – das steht im Mittelpunkt. Ein bisschen kann ich das nachvollziehen. Gefühle sind ja da, jeder hat sie, sie sind lebenswichtig, manchmal überlebenswichtig. Wer die eigenen Gefühle unterdrückt oder nicht ernst nimmt, wird krank.  Wenn ich mich betrogen fühle von all den großen Reden und Wahlversprechen, dann kann das für mich schon eine Realität sein. Das sollte man auch nicht wegdiskutieren. Schwierig wird es dann, wenn meine Gefühle benutzt werden, um damit Stimmung zu machen, um damit sogar Politik zu machen. Gefährlich wird es, wenn populistischen Parolen mehr geglaubt wird als blanken Zahlen. Die Menschen in Großbritannien zum Beispiel haben sich irgendwie von der EU betrogen gefühlt, weil es vielen, gerade den Fischern, nicht gut geht. Wenn dann ein Brexit-Befürworter sagt: „Der Ausstieg spart uns 300Mio Pfund am Tag!“ dann wird das geglaubt, weil es zu den eigenen Gefühlen passt, obwohl es nachweislich nicht wahr ist. Offen spricht es ein AfD-Vertreter in Berlin aus: auf die Frage, warum seine Partei nie davon spricht, dass 98 Prozent der Migranten in Deutschland friedlich leben, sagt er: „Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht darum, wie das der Bürger empfindet. Das heißt also: das, was man fühlt, ist auch Realität“.[1] So definiert sich die postfaktische Politik, das ist die Zeit der Nach-Wahrheit, und das ist brandgefährlich. Die Namen Kaczynski, Erdogan und Trump stehen dafür.

 

Zu den Dingen, auf die ich mich im Advent freue, gehören auch die alten Texte aus der Bibel. Die kommen alle Jahre wieder, aber sie kommen nie aus der Mottenkiste, sondern sie hören sich immer frisch an und bleiben aktuell. Das Magnificat ist so ein Text, das Loblied der Maria, das sie anstimmt, als sie weiß, dass sie schwanger ist. Mit ihrem Kind wird eine andere Zeit anbrechen: „Gott übt Gewalt mit seinem Arm“ singt sie „und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzen Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1,51-53)

 

Zu den Fakten in Deutschland zählt, dass 1,8 Mio Kinder in Armut aufwachsen. Das Kindergeld reicht nicht, die Familien leben am Existenzminimum. Diese Jungen und Mädchen haben auch keine Chance auf eine gute Schulbildung. Sie sind nicht im Fußballverein, nicht beim Reiten, spielen nicht Klavier. Davon sprechen die alten Texte: wie es sein soll, wie es sein könnte in unserer Welt. Sie sind nicht postfaktisch, sie sind gar nicht gefühlig, sie kommen nicht aus der Zeit der Nach-Wahrheit, vielmehr suchen sie nach einer neuen Wahrheit. Ich nenne sie prä-faktisch, denn sie stehen der Realität voran. Einer Realität, die sie erst noch schaffen wollen. Der Advent ist die Zeit der Gefühle. Aber der Advent ist nicht rührselig. Es ist die Zeit der Erwartung: das Unabänderliche wird geändert werden. Diese alten Texte sind deswegen wahr, weil sie ins Herz treffen. Weil sie alle Jahre wieder gelesen, gekaut, gehört, geliebt werden: Weil sie von Zukunft sprechen.

 

[1] Zit. nach Wikipedia-Artikel „Postfaktische Politik“ https://de.wikipedia.org/wiki/Postfaktische_Politik, abgerufen am 17.11.2016

24.11.2016
Pfarrerin Sandra Zeidler