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Also – jetzt bin ich auf jeden Fall wach, nach diesem Weckerklingeln und Glockenläuten von Pink Floyd. Aber kein Grund zur Hektik, heute ist Sonntag, erstmal eine Tasse Kaffee oder Tee, denn: „eigentlich ist es ja erst halb acht“.
Das denke ich jedes Mal, wenn die die Uhren umgestellt werden. Ab heute gilt wieder die Winterzeit: die vergangene Nacht war eine Stunde länger. Und mit der Winterzeit ist es morgens jetzt früher hell, dafür ist es abends früher dunkel. Und auch wenn diese Nacht allen eine Stunde geschenkt hat, es bleibt dabei: Die Zeit vergeht, Time ticking away, wie Pink Floyd singen: Du bist jung und das Leben ist lang und du hast alle Zeit, sie totzuschlagen. Und ehe du dich versiehst, sind wieder zehn Jahre vorbei und keiner hat dir gesagt, wann es losgeht.
Ein düsteres und trauriges Lied, ein Lied aus der ersten Lebenshälfte, finde ich.
Wenn man noch mit sich selber ringt und sucht, wo es hingehen könnte, ausbricht, ausprobiert, neu anfängt, sich anpasst, aber irgendwie noch keine Mitte hat. Man wartet immer darauf, dass einem einer sagt, wann das „richtige“ Leben losgeht. Passiert aber nicht. Und dann wird es Herbst und draußen vor dem Fenster fallen die Blätter von den Bäumen, es nieselt und nebelt und drinnen im Herzen sieht‘s auch nicht besser aus.
Ich bin dieses Jahr 51 geworden, im Mai ist mein Vater gestorben, nach 86 vollen Lebensjahren. „Mach das Beste draus“, das hat er mal in einem kurzen, persönlichen Moment gesagt. Mach‘s Beste draus…
Ich denke viel darüber nach, was es auf sich hat mit der zweiten Lebenshälfte. Und wann die anfängt und wie man das merkt. Manche sagen „du bist ja noch jung“, heute, wo Menschen mit 70 noch eine Weltreise machen, Staaten und Unternehmen führen und Frauen in Deutschland eine Lebenserwartung von 83 Jahren haben. Ich bin lebensfroh und voller Pläne und gerne auch mal albern wie ein Teenager. Aber immer wieder auch schon recht müde, mit wenig Lust, mich mit Oberflächlichkeiten aufzuhalten. Wenn es mich dann doch mal überkommt, dann kaufe ich mir so ein buntes Society Magazin mit Bilderstrecken von den neuesten Modetrends und Insidernews aus den Königshäusern Europas. Und kürzlich war mein Thema auf dem Titel: Mit 50 plus haben Frauen die beste Zeit ihres Lebens: Ulrike Folkerts, Julia Roberts und Königin Letizia von Spanien – warum diese Frauen glücklicher sind denn je! Ein paar der Träume, die man mit 20, 30 hatte, haben sich erfüllt, aber jetzt sind die Frauen alle mehr bei sich, akzeptieren ihre Ecken und Kanten und ihren Körper, heißt es in dem Artikel. Sie seien souverän, selbstbewusst und gelassen. Die Früchte ihrer Arbeit wären reif zum Ernten.
Ich lese das mit einem Grinsen und einer gewissen Distanz, das bunte Magazin will ja nicht in die Tiefe bohren. Aber der Artikel stellt schon eine Frage, die Menschen berührt: Was kommt jetzt noch? Was mache ich aus meiner zweiten Lebenshälfte? Geht’s bergab oder aufwärts?
„Falling upward. A spirituality for the two halves of life“ so heißt ein Buch des Franziskaners Richard Rohr. “Reifes Leben“ heißt es auf deutsch. „Eine spirituelle Reise.“ Mir ist es vor ein paar Jahren begegnet, als ich das Gefühl hatte, ich falle in ein dunkles Loch aus Sinnlosigkeit und Überforderung. Der paradoxe englische Titel hat mich angesprochen: Falling upward – wie kann denn etwas nach oben fallen? Das widerspricht allen physikalischen Gesetzen und auch dem, was wir so gemeinhin von der zweiten Lebenshälfte denken: ab jetzt wird alles schlaff, der Körper macht nicht mehr richtig mit, wird faltig und unattraktiv und die Zipperlein, kaum zeigen sie sich, werden zu handfesten Gebrechen. Alt werden heißt, weniger Vitalität, weniger Leistungskraft, altes Eisen. Richard Rohr glaubt nicht, dass das alles ist: „Was aussieht wie Fallen, kann man auch als ‚nach oben Fallen‘ erleben“ schreibt er. „Fallen heißt dann, Fallen in eine weite und tiefere Welt, wo die Seele Verbundenheit spürt und Teil des großen Ganzen wird.“ Mich spricht er damit sehr an, obwohl ich auch spüre, dass die Worte noch ein wenig abstrakt sind. Sie wollen mit Leben und Erfahrung gefüllt werden.
Anna Meier habe ich vor zwei Jahren kennen gelernt. Sie ist mir aufgefallen, weil sie eine ganze Gruppe von Zuhörern mit ihren Geschichten unterhalten hat. Und weil ihr Rollator mit einer bunten, blinkenden Lichterkette geschmückt war. „Da find‘ ich besser heim“ sagt sie mit fränkischem Augenzwinkern. Die 92-Jährige lebt seit dem Tod ihres Mannes im Seniorenheim in einer eigenen Wohnung. Ich habe sie dort dann öfter im Gottesdienst getroffen, sie ist die Mesnerin, zündet die Kerzen an, bereitet das Abendmahl vor und hat immer ein ermutigendes Wort für die andern Bewohner. Sie schreibt pfiffige Gedichte auf fränkisch, die sie dann bei Geburtstagen und Jubiläen vorträgt, mit Schalk und Selbstbewusstsein. Als junges Mädchen musste Anna Meier in einem Milchladen schuften, um die Familie durchzubringen, sie hat zwei Kinder großgezogen, immer gearbeitet, im Alter den Mann gepflegt, war aktiv im Kirchenvorstand der Gemeinde. In einem langen Gespräch hat sie mir aus ihrem Leben erzählt. Beim Abschied sagt sie: „Wenn ich an Gott denke, dann habe ich das Gefühl, der ist da so um mich rum!“ Und sie hat mit ihren Armen eine Bewegung gemacht wie einen Kreis um sich, wie einen weiten Rock, der sie umschließt und schützt. Eine Frau am Ende der zweiten Lebenshälfte, die ihre spirituelle Reise mit mir geteilt hat.
Mit meinem 50 Jahren stehe ich am Anfang der zweiten Lebenshälfte. In den letzten Jahren sind mir die Ruhe und die innere Einkehr wichtig geworden. Wenn es geht, stehe ich um halb sieben auf und meditiere. Ich zünde eine Kerze an, spreche ein Gebet und dann sitze ich in der Stille. Es dauert, bis der Kopf zur Ruhe kommt, viele Gedanken schwurbeln da rum – der kommende Tag, vergangene Ereignisse, Gesprächsfetzen. Ich versuche sie loszulassen, wie Luftballons, die in den Himmel steigen und aus dem Blick verschwinden.
Eine Zeitlang habe ich versucht, Bibelstellen zu meditieren, „durchzukauen“ wie manche sagen, aber das ist mir irgendwie zu viel. Mir tut es gut, in der Gegenwart Gottes zu sitzen. Das denke ich dann: „Ich bin in der Gegenwart Gottes“, manchmal spüre ich es auch. Gott ist da. Um mich rum, in mir drin. Gott füllt mein Leben.
Spirituelle Fragen sind mir wichtiger geworden: Was trägt mich? Wo bin ich verbunden? Ich merke mehr und mehr, dass nicht mehr die Trauer über das fallende Laub, sondern die Freude an den reifen Früchten im Mittelpunkt steht. Nicht mehr das Nachweinen, das Lamentieren über die eigene Müdigkeit, die nachlassende Energie, sondern der liebevolle Blick für meine Mitmenschen und für mich. Und: die Sehnsucht nach Wahrheit und Schönheit. Meine erste Lebenshälfte ist nicht obsolet oder verschwendet, im Gegenteil: „In der ersten Lebenshälfte geht es darum, den Inhalt des Drehbuchs festzulegen“ schreibt Richard Rohr, „aber in der zweiten Hälfte müssen wir es tatsächlich schreiben und leben.“
In der ersten Lebenshälfte geht es für viele Menschen darum, ihren Weg zu finden, sich zu etablieren. Einen Partner, eine Partnerin finden, heiraten, vielleicht Kinder, sich im Beruf festigen. Das sind so klassische Modelle. Vieles hat sich verändert, die Lebensentwürfe sind vielfältiger geworden und das ist ja auch gut so. Die These des Franziskaners Rohr finde ich, bleibt: wie soll der Inhalt meines Drehbuchs aussehen: Zu zweit leben? Mich gesellschaftlich engagieren? In die Stadt ziehen oder einen alten Bauernhof in Brandenburg renovieren? Und erleben, dass man noch so viel planen und festlegen und sich wünschen kann, das Leben kommt oft genug dazwischen. Partnerschaften zerbrechen, man wird krank, der Beruf passt nicht zu mir. Zur ersten Lebenshälfte gehören die Schmerzen und die Wunden. Und das Lernen und wieder Aufstehen, Krönchen richten und weiter machen.
Mir ist bewusst geworden, dass niemand von außen meine Probleme löst. So wie das mal die Eltern gemacht haben, ich habe lange den Rat meiner Mutter eingeholt. Das ist ja auch in Ordnung, schwieriger wird’s, wenn ich andere verantwortlich mache für mein Dilemma, meine Trennung, mein Versagen.
Die zweite Lebenshälfte könnte dazu da sein, frei zu werden und zu reifen. Frei von Ansprüchen, irgendwie sein zu müssen: ewig jung und leistungsstark, alles im Griff haben, was das Hochglanzmagazin ja dann doch auch von den Promis über 50 erwartet!
Mir kommt es eher so vor, als wäre es die Zeit, nach innen zu schauen: in mein Herz und meine Seele, statt im außen nach Lösungen für meine Fragen zu suchen. Im Herbst ist man ja mehr drinnen, da kann man sich solchen Fragen widmen, das Drehbuch selbst schreiben, wie Richard Rohr es nennt, mit eigenem Inhalt füllen, mit persönlichen Fragen: Wie bin ich die geworden, die ich bin? Und mag ich diese Person? Bin ich ehrlicher, liebevoller, nachsichtiger geworden? Kann ich mich als kleines Rädchen im Universum sehen und nicht als Zentrum, um das sich alles dreht?
Mir kommt mein Vater wieder in den Sinn mit seinem lakonischen „Mach das Beste draus!“ Zuerst konnte ich nicht so viel damit anfangen. Was hat er damit gemeint, in Bezug auf das Leben? Ist das nicht ein bisschen banal? Ich denke immer mehr, es geht um den Augenblick, um das, was gerade da ist. Ich sitze am Morgen in der Stille des anbrechenden Tages, im Frühling ist mein Fenster offen und ich höre die Amseln zwitschern, im Herbst klopfe die Regentropfen an die Scheibe. Ich treffe Freunde, einer wird Vater, eine hat ihren Mann verlassen. Ich laufe durch den bunten Wald und sehe die Pilze sprießen, trotz trockenem Sommer. Ich habe einen Berg von Arbeit und weiß nicht, wo ich anfangen soll.
In jedem Moment will ich da sein und das Beste draus machen: mich mitfreuen, mitweinen, einen Schritt nach dem nächsten. Nicht mehr und auch nicht weniger.
Mein Vater war ein großer Jazz-Fan, aber ich weiß gar nicht, ob er dieses Lied kannte. Hätte ich ihn mal fragen sollen. Es ist ein Standard geworden, eigentlich ein Chanson „Les Feuilles mortes“ die toten Blätter. Ein langsames, trauriges Lied, über eine Liebe, die einfach verschwunden ist, vom Baum gefallen wie die Herbstblätter, still und leise, ohne Aufsehen. Mir gefällt die schnellere, eigenwillige Version des Jazz-Trompeters Chet Baker: „Autumn leaves“, Herbstblätter. Er hat für mich aus einem todtraurigen Chanson einen Song für die zweite Lebenshälfte gemacht: Ich bin gekränkt worden und ich selbst habe andere verletzt, aber ich gehe jetzt anders damit um: ich bin frei, ich bin verantwortlich, ich bin die Autorin meines Lebensdrehbuchs. Und die Zeit, die mir geschenkt ist in der zweiten Lebenshälfte, die fülle ich aus mit dem, was mein Leben reich macht.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Pink Floyd: Time (Roger Waters, David Gilmour, Richard "Rick" Wright), CD-Titel: Dark Side oft he Moon, Track Nr. 6.
- Karl Ivar Refseth: Wise man (Karl Ivar Refseth), CD-Titel: Devotion, Track Nr. 9.
- Chet Baker: Autumn leaves, (Joseph Kosma), CD-Titel: Chet Baker: Jazz profiles, Track
Nr. 7.
Literatur dieser Sendung:
- Richard Rohr: Falling upward. A spirituality for the two halves of life, SPCK 2012.
- Zitate aus dem Newsletter: Richard Rohr's Daily Meditation from the Center for Action and Contemplation.