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Wer, wie ich diesen Sommer, rund um die Ostsee reist, kommt am Baltikum nicht vorbei. Dort ist die Solidarität mit der Ukraine noch viel bedingungsloser als bei uns. Noch in den kleinsten Städten hängen blau-gelbe Fahnen. Und direkt vor der russischen Botschaft in Riga hängt ein riesiges Plakat, das Vladimir Putin mit einem Totenschädel zeigt. Die Geschichte der Besetzung Litauens, Lettlands und Estlands durch die Sowjetunion und der mühsame Weg zur Unabhängigkeit sind dort sehr präsent. Und auch die Skepsis, dass mit der heutigen russischen Regierung irgendeine Art von Verhandlungslösung möglich sein könnte.
„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“ sagt Jesus in der Bergpredigt. Er spricht auch davon, nicht zurückzuschlagen, sondern die eigenen Wange hinzuhalten. Und seit dem 24. Februar 2022 fragen sich viele Christinnen und Christen ganz neu, wie Jesus das gemeint hat. Radikal pazifistische Positionen. Gegenargumente dazu und die Frage, ob man Waffenlieferungen in die Ukraine ablehnen sollte, haben über Wochen und Monate die Diskussionen bestimmt.
Zunächst einmal ist es ein großer Unterschied, ob man von anderen Menschen verlangt, dass sie alles glauben, alles hoffen, alles ertragen und alles dulden sollen. Oder ob man es mit ihnen gemeinsam glaubt, hofft, erträgt und duldet. Ich kann den beiden Familien aus der Ukraine, die in unserem Haus Zuflucht gefunden haben, nicht sagen, dass sie bitte die andere Wange hinhalten sollen. Es ist ihre Heimat, die zerstört ist, und ihr Leben, das dort bedroht wäre. Zu meiner eigenen Orientierung halte ich fest: Wo herumtönend, herablassend, selbstgerecht und manchmal einfach verlogen aus einer bequemen und unbeteiligten Position über das Schicksal der Menschen in der Ukraine gesprochen wird, kann es nicht einmal mit der Nächstenliebe weit her sein.
Ich halte zu meiner eigenen Orientierung aber auch fest: Wo ich selbst herablassend, erbittert und unfreundlich werde im Umgang mit denen, die in dieser Frage anderer Meinung sind als ich, ist es auch mit meiner Feindesliebe nicht weit her. Einen echten Selbstversuch in Feindesliebe hat Jesus gemacht. Und nicht nur davon geredet. Jesus glaubt alles, hofft alles, erträgt alles, erduldet alles. Er hat sich am Ende festnageln lassen auf die Liebe.
Es gilt das gesprochene Wort.