Wort zum Tage
Gemeinfrei via unsplash/ Ümit Bulut
Missbrauch
von Pfarrerin Kathrin Oxen
23.02.2024 05:20
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Jeden Freitagmittag bete ich in der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin mit den Besucherinnen und Besuchern die Versöhnungslitanei. Dieses Gebet ist 1958 in Coventry entstanden. Die mittelenglische Stadt wurde 1940 von deutschen Bombenangriffen fast vollständig zerstört. Man hat sie wiederaufgebaut. Aber als ich im vergangenen Jahr Coventry besucht habe, habe ich gedacht, dass man auch eine Stadt töten kann. So versehrt ist sie immer noch.

„Die Wunden der Vergangenheit heilen“, das ist eines der Ziele der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft, die in Coventry gegründet worden ist. Wenn wir in Berlin die Versöhnungslitanei gemeinsam beten, habe ich oft das Gefühl, dass sich die Bitten aus der Nachkriegszeit wie von selbst aktualisieren. Eine Bitte war in den letzten Wochen für mich besonders schwer zu beten: „Vater, vergib die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht.“ Ich muss an die Studie denken, die Ende Januar veröffentlicht wurde und die gezeigt hat, wie viel sexualisierte Gewalt es in den vergangenen Jahrzehnten in der evangelischen Kirche und Diakonie gegeben hat.

Wie viele Männer zu Tätern geworden sind und wie sie die Offenheit, das Vertrauen und die Zuneigung besonders von Kindern und Jugendlichen ausgenutzt haben. Die Mehrzahl von ihnen war sogar verheiratet. Ich bin sicher, dass dies, wie die Forscher sagen, nur die Spitze der Spitze des Eisbergs ist. Und ich weiß, wie die Erfahrung von sexualisierter Gewalt ein Menschenleben zerstören kann.

Die Versöhnungslitanei von Coventry orientiert sich an den sogenannten „Todsünden“. Zu ihnen gehört auch die Wollust, das gierige, rücksichtslose Befriedigen des eigenen sexuellen Verlangens und des eigenen Machttriebs. Entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht wurden in der evangelischen Kirche und Diakonie tausende Menschen.

Eine Todsünde. Sie müssen wir in der evangelischen Kirche erst einmal eingestehen, vor den Betroffenen, vor uns selbst und vor der Öffentlichkeit. Und niemand von uns in der evangelischen Kirche darf irgendjemanden von den betroffenen Menschen dazu auffordern, dass ihre oder seine Wunden aus der Vergangenheit doch gefälligst mal heilen sollten. Sie sind so versehrt, auch nach Jahrzehnten. Da gibt es kein „das ist doch lange her“ und schon gar kein „so schlimm wird es wohl nicht gewesen sein“. Angesichts dieser Schuld, die wir als evangelische Kirche auf uns geladen haben, kommt mir die Bitte „Vater, vergib“ schwer über die Lippen.

Es gilt das gesprochene Wort.