Wort zum Tage
Treibgut
23.12.2015 05:23

Er wollte seine Familie zu Weihnachten überraschen. Deswegen wusste auch niemand, dass er sich zu ihnen auf den Weg gemacht hatte. Am Sonntag, den 23. Dezember 1866 lässt sich Tjark Evers, Schüler einer Navigationsschule bei Aurich in Ostfriesland, von zwei Fischern in einem Ruderboot zur Insel Baltrum übersetzen. Es ist noch früh an diesem nebligen Morgen. Als das Boot auf dem Sand aufläuft, ist Tjark Evers sicher, schon den Oststrand seiner Heimatinsel erreicht zu haben. Die Männer rudern davon. Nach wenigen Schritten merkt Tjark, dass der Sand, auf dem er steht, kein Strand ist, sondern nur eine Sandbank im Wattenmeer. Und weil er die Gezeiten gut kennt, weiß er auch, dass Flut ist und das Wasser in den nächsten Stunden steigen wird. Es gibt keine Rettung für ihn. Er muss ertrinken.

Es ist die ungeheuerliche Gleichzeitigkeit, die mich an dieser Geschichte so tief bewegt. Während ihr Sohn und Bruder auf der Sandbank im steigenden Wasser steht, den sicheren Tod vor Augen, bereiten sich seine Eltern und Geschwister wie an jedem Sonntag auf den Kirchgang vor. Vielleicht haben sie mit leisem Bedauern an ihren Tjark gedacht, der in diesem Jahr nicht mit ihnen feiern wird. Dass sie nie wieder mit ihm Weihnachten feiern werden, wissen sie noch nicht.

Anfang des Jahres 1867 wird am Strand der Insel Wangerooge eine Zigarrenkiste angeschwemmt. Sie ist mit einem Tuch umwickelt. In ihr liegt das Notizbuch von Tjark Evers und sein Bleistift. Mit großen Buchstaben hat er die noch leeren Seiten im Buch gefüllt. Liebe Eltern, Gebrüder und Schwestern / ich stehe hier auf einer Sandbank und muss ertrinken / ich bekomme euch nicht wieder zu sehen und ihr mich nicht. / Gott erbarme sich über mich und tröste euch / Ich stecke dieses Buch in eine Zigarrenkiste / Gott gebe, dass ihr die Zeilen von meiner Hand erhaltet. / Ich grüße euch zum letzten Mal.

Wie durch ein Wunder sind diese letzten Worte bei denen angekommen, für die sie bestimmt waren. Als Treibgut am Strand einer anderen Insel. Wie einen kostbaren Schatz hat die Familie Evers die Zigarrenkiste mit dem Buch darin aufbewahrt. Immer an Weihnachten wurde sie herausgeholt. Dann haben sie die Worte noch einmal gelesen. Und es war, als wäre Tjark wieder bei ihnen für einen Moment.

Seine Geschichte zeigt mir etwas: Die wirklich wichtigen Worte sollten wir einander nicht erst sagen, wenn einem von uns das Wasser bis zum Hals steht. Sie sind auch zu kostbar, um zum Treibgut zu werden. Es darf kein Zufall sei, ob sie bei denen ankommen, für die sie bestimmt sind. Und Weihnachten ist eine gute Gelegenheit, sie zu sagen.