Morgenandacht
Luft holen
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11.01.2016 05:35

Es war einfach die Zahl, die ihr zu schaffen machte. Mit ein, zwei, manchmal drei heftigen Kommentaren konnte sie gut umgehen. Bei dramatischeren Geschichten war es auch mal eine stattliche Reihe. Aber dass jetzt 180 Reaktionen kamen pro Eintrag, das ging ihr an die Nieren. Es war ein Job, wie jeder andere. Manche ihrer Kollegen stehen vor der Kamera, andere dahinter. Die dritten in der Redaktion. Sie machte nun Internet. Was sie textete, kam gut an. Sie hatte es drauf, kurz und ansprechend zu formulieren. Hatte ein Händchen für Überschriften. Auch Nutzer konnten das honorieren. Viele Kommentare waren freundlich und wertschätzend. Früher.

 

Irgendwann hatte es sich gedreht. Es war, als wenn die Gullideckel aufspringen und der Unrat nach oben schwemmt. Es fing einfach an zu stinken. Jedes sachliche Argument war nichts mehr wert. Es gab nur noch Stimmung und die war unterirdisch miserabel. Was auch immer ins Netz ging und kommentiert werden durfte – es wurde gehasst, geschimpft, beleidigt. Durch die Bank weg. Sie hielt dem tapfer stand. Die Devise war: Wir machen unseren Job sauber weiter. Wir achten auf Nettiquette. Wir antworten sachlich, wir bleiben am Thema. Wir lassen Beschimpfungen an uns abperlen.

 

Aber den ganzen Tag? Tauchte in einer Meldung auch nur einmal das Wort ‚Asyl’ auf, oder ‚Europa’ oder ‚Merkel’, dann war klar, was passieren würde. Und die Liste der Triggerworte wurde immer größer.

 

Irgendjemand hatte Fäkalsprache scheinbar erlaubt. Wer?? Irgendjemand hat offensichtlich gesagt, dass alle Wut richtig ist und herausgebrüllt gehört. Egal wann, egal wo. Dass man draufdreschen darf. Schlagen, verstümmeln, anzünden? Worte, Bilder, Häuser. Auch Menschen? Auch Menschen. Da stockt aber Gott sei Dank auch der Fluss der Hasser. Um dann gleich wieder loszusprudeln.

 

‚Wer baut Dämme gegen diese Flut,’ hatte sie ihren Kollegen gefragt. ‚Du’, hatte er gesagt, und einfach weiter getippt. ‚Ich??’

 

Acht Stunden Bildschirm gucken, acht Stunden blanken Hass ertragen, acht Stunden gegen falsche Argumente angehen, gegen keine Argumente angehen, Beschimpfungen ignorieren. Wer hält das durch? Immer sachlich bleiben, immer Gleichmut bewahren. Nicht ausfällig werden – ich bin doch keine Maschine!

 

Irgendwann legte eine dicke Grippe sie lahm. Ich will nur noch schöne Geschichten machen, dachte sie. Über angenehme Themen. Erbauliche. Ich will nicht mehr der Mülleimer sein. Ich kann das Gemetzel nicht ertragen.

 

In ihrem Kopf drehte es sich immer weiter. Auch als der Arzt sagte, sie werde längerfristig ausfallen. Es trat keine Ruhe ein. Die perversesten Kommentare verfolgten sie bis in die Träume. Die anonyme Postkarte in ihrem Briefkasten machte ihr Angst. ‚Ich weiß wo du wohnst‘ stand drauf.

 

Die Grippe wächst sich aus bis zur Lungenentzündung. Das Fieber steigt.

 

„Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.“ Das war ihr Konfirmationsspruch.

 

Genau diese Burg brauche ich jetzt. Denkt sie. Da kommt sie gerade ins Krankenhaus. Gott, reiß mich heraus!

 

In der Burg des Glaubens ist viel Platz. Da wohnen auch viele andere, sagt ihr die Krankenhaus-Seelsorgerin. Sie hat die Ruhe weg. Unterhält sich lange mit ihr. Generationen von Bedrängten haben sich hierher geflüchtet. In der Burg ist in bester Gesellschaft, wer Schutz und Trost braucht.

 

Viele Tage liegt sie auf Station, dann darf sie nach Hause. Kein Internet, hatte der Hausarzt ihr geraten. Keine Nachrichten. Nur das, was heilt. Was stark macht.

 

Sie hört Bach. Als sie auf ist, geht sie in Museen und Galerien. Schaut bei den Patenkindern vorbei. Das Leben geht weiter. Es ist nicht nur böse. Sie liest schöne Romane, beschließt, wieder in den Chor zu gehen. Und sie geht spazieren. Jeden Tag. Was für ein Genuss. Wetter. Frische Luft. Himmel.

 

Eine Burg. Der Himmel ist eine Burg.

 

In der Burg wohnt die Ruhe. Sie heilt. Kranke Worte machen krank. Stille heilt. In der Stille lebt Gott.

 

Als sie das erste Mal wieder ins Internet schaut, auf ihre Seiten, ist sie gewappnet. Der Hass wird nicht das letzte Wort haben, weiß sie jetzt. Der Abstand tut gut.

 

Leben – Du hast mich wieder.