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Es ist eine Art Flashmob-Gebet: An jedem Freitag um kurz vor eins stelle ich mich in die Gedenkhalle in der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin und halte ein Blatt mit einem Gebet darauf hoch. Ich lade alle Besucherinnen und Besucher ein, mit mir die Versöhnungslitanei aus Coventry zu beten. Wir stellen uns vor dem Nagelkreuz auf und sprechen miteinander die sieben Bitten.
„Vater, vergib…“ ist der Refrain nach jeder Bitte. Diese Worte sind in die Ruine der St.-Michael’s-Kathedrale in Coventry eingemeißelt. 1940 wurde die Stadt in Mittelengland und die Kathedrale bei einem deutschen Bombenangriff zerstört. Unmittelbar danach rief der Dompropst Richard Howard dazu auf, „jeden Gedanken an Vergeltung aus den Herzen zu vertreiben“. Das Nagelkreuz ist zum Symbol einer weltweiten Versöhnungsbewegung geworden. Es wurde aus Nägeln des verbrannten Dachstuhls geformt.
Die Versöhnungslitanei selbst wurde 1958 formuliert. Sie orientiert sich an den sieben sogenannten „Todsünden“: Stolz, Habgier, Wollust, Zorn, Maßlosigkeit, Neid und Trägheit. „Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse – Vater, vergib“ beten wir an einem ganz normalen Freitag um die Mittagszeit. Und dann denke ich an den Hass und Zorn in der Welt. Und daran, dass 1958 der Zweite Weltkrieg noch gar nicht lange vorbei und schon vom Kalten Krieg abgelöst worden war. Und dass wir heute, fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wieder live erleben, wie Hass und Zorn sich in der Welt ausbreiten, Nation von Nation trennen und Volk von Volk.
Und wenn wir „Klasse von Klasse“ beten, dann denke ich daran, wie sich gerade in unserem Land die Gesellschaft trennt und „Wutbürger“ und „Gutmenschen“ einander unversöhnlich gegenüberstehen. Nicht alles davon lässt sich durch soziale Ungerechtigkeiten erklären. Denn diejenigen, die wirklich darunter leiden, sind gar nicht so laut. So viel Hass auf andere Menschen, vor allem auf die aus anderen Nationen oder Völkern. So viel Zorn in den sozialen Medien und in der Öffentlichkeit, sogar im Bundestag, wenn AfD-Politiker:innen ihre Redezeit dafür nutzen. Ich finde keine Erklärung für diese ganze Wut, den Hass, den Zorn.
Eigentlich ist mir die mittelalterliche Vorstellung von den Todsünden fremd. Sie zeichnen sich dadurch aus, lese ich, dass Menschen die Gemeinschaft mit Gott und anderen Menschen willentlich verlassen. So etwas muss das wohl sein, denke ich. Und bete: Vater, vergib!
Es gilt das gesprochene Wort.