Campervan vor Sonnenuntergang
Gemeinfrei via unsplash.com/Kevin Schmid
Drauflosfahren
Mit dem Campingbus durch Europa
12.07.2020 07:05
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Haltet mich nicht auf

Ich finde mich in einer Wolke von blauen Schmetterlingen wieder. Aufgeregt flattern sie um mich rum. Ich bin ganz still, betört von den zarten Wesen: die blaue Farbe ihrer Flügel eingerahmt von einer feinen schwarzen Linie, gerändert mit zartem Weiß, ein bisschen wie ausgefranst. Ein Schmetterling setzt sich auf ein Blatt, klappt die Flügel zusammen und ich sehe die graubraune Unterseite mit den hingetupften schwarzen Punkten.

 

Es ist der 26. Juni 2018, über einen Monat sind wir schon unterwegs. Zwei Jahre später erinnere ich mich an diese wundervolle Reise quer durch Europa. Vieles ist mir sehr präsent, so wie die blauen Schmetterlinge, vielleicht auch weil in diesem Sommer das Reisen für viele von uns so erschwert ist – auch wir wissen noch nicht, ob es einen richtigen Sommerurlaub geben wird für uns und deswegen sind die Erinnerungen so wertvoll für mich. Heute morgen möchte ich ein paar dieser Erinnerungen mit Ihnen teilen an eine siebenmonatige Reise durch Europa in unserem silbernen Campingbus namens OttoCar! Meine Frau und ich haben uns eine Auszeit genommen, uns beurlauben lassen und dann sind wir einfach drauflosgefahren, weg von allen Verpflichtungen und Terminen. Fahren, wohin die Straße führt, übernachten, wo es uns gefällt. „Haltet mich nicht auf, denn Gott hat Gnade zu meiner Reise gegeben.“ So habe ich mich gefühlt, als die Entscheidung gefallen ist: Haltet mich nicht auf! Toller Job – halte mich nicht auf! Liebe Kollegin – halte mich nicht auf! Schöne Wohnung in der Münchner Maxvorstadt – halte mich nicht auf! „Haltet mich nicht auf, denn Gott hat Gnade zu meiner Reise gegeben.“ So wie Sophie Hunger singt: Ich hab keine Angst vor der Straße, wir werden sehen, wir müssen es probieren, der Wind wird uns tragen.

 

 

Und so sind wir dann losgefahren, Mitte Mai 2018. Der grobe Plan: Wir umrunden die Ostsee. Also auf, immer nach Norden bis Dänemark, rüber nach Schweden immer weiter nordwärts rund um den Bottnischen Meerbusen bis Finnland, dann süd-südost nach St. Petersburg, von da ins Baltikum: Estland, Lettland, Litauen und über Polen dann an die deutsche Ostseeküste. Im Winter nach Süden, wo es schön warm ist, ans Mittelmeer, Algarve, Portugal.

Ungefähr so ist es auch gekommen, ein bisschen Zeit haben wir verbummelt, ein bisschen haben wir abgekürzt, ein bisschen war jede allein unterwegs. Was mit der Seele passiert auf so einer Reise, das lässt sich nicht vorausplanen, aber man lernt, auf sie zu hören und ihr nachzugeben.

Und so sitze ich auf einem Campingplatz in Schweden und beobachte blaue Schmetterlinge – Ameisenbläulinge, das habe ich mittlerweile ergoogelt. Es gibt gutes W-Lan auf dem ansonsten sehr abgelegenen Campingplatz. Und das ist ja wichtig, wenn man unterwegs ist, eine stabile Internetverbindung: Zum Navigieren, zum Stellplatzfinden, für Infos über den Campingplatz, um eine Nachricht nach Hause zu schicken. Es gibt Dinge, die man braucht auf einer Reise im Campingbus – und es gibt viele Dinge, die man nicht braucht: Ich hatte eine ganze Kiste Bücher dabei, gelesen habe ich eins, und das habe ich mir unterwegs gekauft. Wir hatten beide zu viele Anziehsachen dabei, schnell kristallisieren sich Lieblingsteile raus, die dann im Dauergebrauch sind. Mit unserem Campingbus hat sich schnell ein sehr wohliges Gefühl eingestellt: OttoCar sorgt für mich – es gibt Wasser, ein Dach über dem Kopf und in einem der vielen Fächer findet sich immer was zu essen, Knäckebrot oder eine Käsespezialität vom Wochenmarkt. Das ist auch heute noch so, wenn ich einsteige: Es gibt sofort ein warmes und sicheres Gefühl in diesem Auto: 16 000 km hast du uns gut gefahren und beschützt!

 

Midsommar

In Schweden waren wir gut zwei Monate, länger als beabsichtigt, selbst für unseren ja nur sehr lose gestrickten Plan. Es war wohl die Zeit, die wir zwei gebraucht haben, zusammen und allein, um richtig anzukommen im Reisemodus. Wir haben uns treiben lassen, an der Schärenküste, der Höga Kusten entlang, dabei wurden die Tage immer länger, bis es Midsommar war, das „schwedischte“ aller Feste rund um den längsten Tag des Jahres. Nachts um vier ist es taghell – immer noch oder schon wieder! An Midsommar trifft man sich in jedem kleinen und großen Ort, tanzt, feiert und singt. An diesem Tag haben wir spontan gehalten an einem alten Bahnhof, der zu einem Café umgebaut war. Bunte Fahnen haben uns von der Straße herbei gewinkt. Die Betreiberin erzählt uns, dass das ihr Lebenstraum ist, ein eigenes Café mit selbstgemachten Sandwiches und Kaffee – denn fika, die Kaffeepause, ist in Schweden die wichtigste Mahlzeit des Tages. „Die schwedische Betti“, so haben wir sie für uns genannt, hat uns dann auch gesagt, wo in der Nähe Midsommar gefeiert wird. Vier, fünf Häuser stehen da beieinander, eines ist ein Bauernmuseum, davor sitzen Menschen in rot gekleidet, mit bunt gestickten Bändern, selbstgeflochtenen Blumenkränzen im Haar. Viele tanzen im Kreis zur Musik von Geige, Akkordeon und Gitarre. Der Kreis wird größer, rumstehen und zuschauen gilt nicht, komm, mach mit! Alle sind fröhlich, freundlich, aber irgendwie auch verhalten, finde ich. Vielleicht greift auch hier beim Feiern das schwedische Lebensgefühl: „Lágom“ ist eigentlich nicht zu übersetzen – „alles im richtigen Maß“ trifft es wohl am besten. Lágom meint die Mitte zwischen „zu viel“ und „zu wenig“. Und so wirken auch die Tänzer und Tänzerinnen auf mich: Alles im richtigen Maß! Nur nicht übertreiben. Obwohl: Die schwedische Betti hat uns erzählt, dass die Schweden gerne einmal in der Woche sich so richtig betrinken, dann wird voll über die Stränge geschlagen. Vielleicht haben sie später dort noch richtig einen drauf gemacht, da waren wir aber schon wieder zurück auf der Landstraße.

 

Ziellos waren wir eigentlich nie unterwegs, obwohl doch jeden Tag neu entschieden werden musste, wo genau es hingeht, wo vielleicht ein schöner Stellplatz lockt; oder ob man nicht doch noch bleibt und weiter tagträumt. „Walking Aimlessly“ heißt ein Lied der schwedischen Sängerin Anna Ternheim: „In den blauen Stunden der Morgendämmerung, bevor der Tag losrennt, und die Konfusion um sich greift: Lass deinen Gedanken einfach freien Lauf...“

 

 

 

Über den Bottnischen Meerbusen

Von Umeå in Südlappland geht’s dann mit der Fähre rüber nach Finnland. Durch unzählige kleine und größere Inseln hindurch nähern wir uns Vaasa, einer gemütlichen Stadt mit schnuckeligem Campingplatz am Meer, Sauna inklusive. Aber Achtung: In Finnland geht kein Mensch nackt in die Sauna, immer schön den Badeanzug anbehalten!

 

Helsinki zieht uns magisch an. Wir beschließen, OttoCar eine Pause zu gönnen und mieten uns im Hotel ein. Nebenan ist ein Friseursalon und ich mache einen Termin für den nächsten Tag. Der Haarschnitt ist wirklich toll, allerdings zu einem Preis, der sogar die Münchner Friseure noch toppt. Ich frage, wie man den als Finne hier so zurecht kommt mit den gesalzenen Preisen. Ach, sagt mein Friseur, es käme auf das Stadtviertel an, und es gäbe schon auch erschwingliche Kneipen. Meinen Einwand, das günstigste Bier für zehn Euro müsse man sich schon lange schmecken lassen, lächelt er weg. Das finnische Lebensgefühl heißt „sisu“ – auch das wieder unübersetzbar! „Ausdauer“, „Beharrlichkeit“ oder auch „Kampfgeist“ kann es bedeuten. Sisu – LKWs heißen so und Panzer, eine Bonbonmarke und mehr als 2000 finnische Männer.

 

Helsinki ist toll! Jugendstil überall, das Meer vor der Tür und im Hafen ein Schwimmbad, über allem wacht der strahlend weiße Dom. Beim Schlendern und Schauen verliere ich die Zeit aus dem Blick. Macht nichts, davon haben wir genug auf der Reise und da ist ja niemand, der hinter mir mit dem Terminkalender winkt. Wir swingen auf der Straße zum vollen Sound einer Jazzband und wir sitzen in der Kampii-Kapelle, ein Gebäude wie eine Schale ganz aus Holz, in dem die Stille inmitten der trubeligen Innenstadt einen Ort gefunden hat.

 

Russisches Intermezzo

Die finnische Südküste ist weich und waldreich, nicht so felsig wie die schwedische. Hier lässt sich’s gut stehen und schauen, das nächste Abenteuer wartet: St. Petersburg! An der finnisch-russischen Grenze kommen Erinnerungen an die ehemals deutsch-deutsche Grenze hoch. Aber alles geht gut! Die Fahrt nach Sankt Petersburg dauert drei Stunden auf der Landstraße; ich verstehe bald, dass so langsame Fahrzeuge wie wir, die sich an die Geschwindigkeitsvorgaben halten, auf dem rechten Streifen fahren sollen, damit links die teuren SUVs vorbei rasen können.

 

Sankt Petersburg empfängt mich mit sozialistischem Plattenbau, der die Randbezirke der Stadt prägt. Mittendrin mein Hotel, auf dem Dach steht in riesigen kyrillischen Lettern: Grand Canyon! Tatsächlich habe ich die Ruhe und die Idylle finnischer Stellplätze am Meer eingetauscht gegen den Trubel der zweitgrößten Stadt Russlands und der viertgrößten Stadt Europas. Ein Kulturschock!

 

Die Rolltreppe hinunter in den U-Bahn-Schacht ist schwindelerregend hoch. Mit der Metro fahre ich in die Innenstadt, in eine andere Welt: Bei meinem Hotel, wo ich einsteige, sitzen oben die Mütterchen und verkaufen Lauchzwiebeln und Gurken aus eigenem Anbau, jetzt stehe ich auf dem Newski Prospekt, der Prachtstraße mit seinen klassizistischen Bauten in rosa und petrol, dem Kaufhaus Gostiny Dwor und dem Singer-Haus mit dem riesigen Globus auf dem Dach. Ich schlendere über die großen Boulevards und an den zahllosen Kanälen der Newa entlang und kann mich nicht recht anfreunden mit dieser Stadt. Zu konstruiert, zu schön, zu bonbonfarben. Ich komme mir immer ein bisschen verloren vor zwischen den Sehenswürdigkeiten, die mich nicht berühren, und den Bewohnern der Stadt, die auf mich gehetzt und ernst wirken. Eine Matrjoschka habe ich mir gekauft, eine aus Birkenholz gedrechselte Puppe, die man bäuchlings öffnen kann und dann kommt die nächste zum Vorschein, vier Puppen in einer. Zuerst hat mich an ihr der Gedanke fasziniert, dass in einem Menschen noch so viel versteckt ist, was man vielleicht von sich selbst gar nicht weiß und erst Schicht für Schicht entdecken muss. Seit Kurzem habe ich alle nebeneinander stehen, von groß nach klein, und denke öfter, dass all das Ich sein kann: groß und rund und sicher und auch klein und schutzlos.

 

Petersburg verlasse ich auf einer vierspurigen Straße, die aber gut und gerne fünf Autos nebeneinander verträgt – denkt jedenfalls der russische Fahrer! Ich halte mit, nur nicht beeindrucken lassen, und steure OttoCar auf die E20 Richtung Westen, Richtung estnische Grenze. Ein Straßendorf reiht sich an das nächste, einfache Holzhäuser mit kleinen Gärtchen, immer mal wieder eine einfache Raststätte, an der Fernfahrer frühstücken.

Am Abend schon sitze ich an der Küste und sehe die Sonne untergehen. Sie lässt sich Zeit, ihr Licht wegzunehmen; es ist mittlerweile schon Ende August. Die estnische Küste ist ein Paradies für Camper. Überall sind wunderbare Plätze versteckt, auf denen man frei stehen kann. Kiefern wachsen bis kurz vor den Strand, hinter den Dünen plätschert die Ostsee träge an den Strand, als wollte sie sagen: Zeit vergeht, schau ein bisschen zu. Die Einladung ist verlockend und wir nehmen sie immer wieder gerne an.

 

Tere Estland!

Aber es gibt ja auch einen Plan und der sagt: immer weiter an der Küste entlang. Wo es einen genau hin verschlägt, das weiß man trotzdem nicht. Es gibt viele Abzweigungen von der Landstraße. Eine nehme ich ganz bewusst, die auf die Insel Saaremaa an der Westküste Estlands. Bei einem Forellenzüchter, der auch Stellplätze vermietet, treffe ich Erika aus Hannover. Sie ist 72 Jahre alt und erzählt mir, dass sie immer schon allein mit dem Wohnmobil unterwegs ist, auch jetzt wieder auf dem Weg zum Nordkap, da war sie schon dreimal, ob’s diesmal wieder klappt, na, mal sehen, wenn die Gesundheit mitmacht. Sie wird begleitet von ihrem Langhaardackel Sammy, der mich ganz toll findet und beschließt, fortan vor meinem Bus seine Siesta zu halten. Erika lädt mich auf ein Eis ein und wir schauen auf den Teich, in dem die Forellen springen.

Abends wacht Sammy noch ein wenig vor unser beider Campingmobile. Ich liege sicher und warm im Heck von OttoCar, die estnischen Wälder und Forellenteiche, die sanft schlürfende Ostsee wiegen mich in den Schlaf. „Estonian Lullaby“, ein Gute-Nacht-Lied vom estnischen Komponisten Arvo Pärt, ist eigentlich ein Volkslied. „Wiegenlieder sind wie kleine Stückchen vom verlorenen Paradies“ sagt Pärt. „Ein kleiner Trost, verbunden mit dem Gefühl von Tiefe und Intimität. Ich habe dieses Wiegenlied für Erwachsene geschrieben und für das Kind in jedem von uns.“ (1)

 

 

Die Zeit tut was sie kann und vergeht. Wenn wir noch nach Portugal wollen, dann aber hurtig weiter Richtung Süden. Am 6. September besteigen wir die Fähre von Lettland nach Lübeck, Zwischenstopp in Hamburg, in der fränkischen Heimat bekommt OttoCar sechs neue Glühkerzen, wir bestaunen den nebeligen Bodensee und sind die letzten auf dem Campingplatz. Die Nächte werden frösteliger. Selbst in Südfrankreich. Klar, es ist ja auch schon Mitte Oktober, als wir in Le-Puy-en-Velay in der Auvergne für ein paar Tage stehen bleiben. Auch hier nur noch ein paar Unverzagte auf dem Campingplatz, wir suchen einen Platz, den die tiefstehende Sonne möglichst lange wärmt. Die Attraktion dort sind die Basalthügel, ehemalige Vulkanschlote. Auf einem dieser kleinen Puys – Hügelchen - thront eine Kirche, die wir über eine steile Treppe erreichen, auf dem nächsten eine 16m hohe rosa angemalte Madonnenstatue aus alten Kanonen gegossen und etwas weiter entfernt auf seinem eignen Puy ein riesiger Josef. Vielleicht wollte die Madonna nicht mehr so gerne allein über alles wachen...

 

Über verschlungene Landstraßen durch das Massif Central zieht es uns südwärts. Albi, Toulouse, die Pyrenäen entlang, hinein nach Spanien. Dort ist es windig und trocken und man kann kilometerweit sehen, die Autobahn schlängelt sich lang und länger durch sandfarbene Landschaften ohne viel Abwechslung. Und dann, als würde ein Schalter umgelegt, als ginge ein Tor auf: Portugal! Dicht und grün und feucht empfängt uns das kleine Land am westlichen Rand Europas. Wir tauchen ein in immergrüne Hügel, Regen und dichte Besiedlung – ein Dorf reiht sich an das nächste, kaum eine Straße, an der kein Haus steht, Bauernhof, Scheune, Autowerkstatt. Die Küstenorte haben es mir besonders angetan. Im November sind sie menschenleer, kein Tourist da, auch die Portugiesen scheinen irgendwo Urlaub zu machen von der Urlaubssaison. Unsere erste Nacht am Atlantik. Was für eine Wucht! Meterhohe Wellen rollen heran, donnern auf die zurückkommende, krachen zusammen und rollen schließlich am Strand aus. Wir stehen mit OttoCar auf einem Parkplatz am Meer, der im Sommer sicher brechend voll ist. Jetzt sind wir die einzigen. Nur gegen Abend kommen ein, zwei Autos aus dem nächsten Ort, und dann beobachten wir immer die gleiche Szene: Man parkt direkt vor dem Zugang zum Wasser, schaltet den Motor ab und starrt hinaus aufs Meer. Ausgestiegen wird nicht, nur geschaut. Für mich hatte das immer was Befremdliches und gleichzeitig etwas Anrührendes. Man will seiner Sehnsucht nachhängen – aber auch nicht zu nah ran! Ist das die portugiesische saudade (saudadschie)?! Wieder so ein Lebensgefühl das kaum zu übersetzen ist. Es hat etwas mit Melancholie zu tun, mit Schmerz und Nostalgie.

 

Nach tagelangem Novemberregen begrüßt uns der Wallfahrtsort Fatima glücklicherweise im Sonnenschein. Ich bin fasziniert von der schieren Größe. Hier steht mit 9000 Sitzplätzen eine der größten katholischen Kirchen der Welt. Dort, wo 1917 drei Hirtenkindern die Jungfrau Maria erschienen sein soll, ist das Zentrum. Wir stehen und beobachten das Treiben, viele Menschen stiften Kerzen und kaufen aus Wachs gegossene Herzen, Babys, Arme oder Beine – je nachdem, wo Gott ein Wunder tun möge. Ich sehe eine junge Frau, die auf Knien die alte Kapelle umrundet. Sie hat kleine weiße Kopfhörer im Ohr. Hört sie Musik? Will sie sich ganz konzentrieren auf ihr Gebet, auf ihre Heilung? Wie viel Sehnsucht und wie viel Gottvertrauen steckt in so einem Menschen.

 

Porto wird die letzte Station auf unserer Reise sein. In der Altstadt Ribeira sitzen wir am Ufer des Douro vor den bunten Häusern und hören dem bärtigen Gitarristen zu, wir laufen über die schmiedeeiserne Bogenbrücke, um auf der anderen Flussseite Portwein zu trinken. Eine lange Reise geht zu Ende, mit vielen Begegnungen, immer neuen Erlebnissen, mit viel Leichtigkeit und auch mit Schwere.

„Haltet mich nicht auf, denn Gott hat Gnade zu meiner Reise gegeben.“ Wenn ich heute zurückschaue, dann sehe ich viel Gnade: Wir hatten keinen Unfall. Wir sind freundlichen und offenen Menschen begegnet. Wir zwei sind heil zurückgekommen und zehren von dem anderen Lebensstil: von der Langsamkeit, vom Draußen sein, von der Erfahrung, das für mich gesorgt ist. Und auch wenn die Seele irgendwann wieder ihren festen Ort gebraucht hat, ist doch auch die Sehnsucht genährt worden, wie anders das Leben sein kann, mit sich allein, unterwegs, jeden Tag neu.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Le vent nous portera, Sophie Hunger
  2. Walking Aimlessly, Anna Ternheim
  3. Estonian Lullaby, Arvo Pärt
  4. Ao longe o mar, Madredeus
     

 

Literaturangaben:

(1) Zitiert nach https://www.arvopart.ee/en/arvo-part/work/330/, abgerufen am 1.7.2020, Übersetzung von der Autorin.