Die Ausstellungen zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich sind Publikumsmagneten. Was fasziniert so viele Menschen heute an dem Maler der Romantik?
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Rügen im Februar, bei Wind und Regen. Eine Wanderung durch die Buchenwälder am Königsstuhl im Norden der Insel führt mich an den berühmten Kreidefelsen vorbei. Selbst bei regnerischem Wetter leuchten sie einigermaßen weiß über dem grauen Meer. Aber ich möchte doch noch einmal wiederkommen, um sie bei besserem Wetter in dem Leuchten zu sehen, das der große Maler der Romantik Caspar David Friedrich 1818 auf einem seiner berühmtesten Gemälde festgehalten hat: "Kreidefelsen auf Rügen".
Mein zweiter Versuch beginnt einige Tage später auf einem einsamen Parkplatz im Wald, von dem aus der Shuttlebus direkt zum Königsstuhl fahren soll. Etwas verloren stehe ich als Einzige an der Bushaltestelle. Doch der Bus kommt tatsächlich auf die Minute pünktlich und öffnet die Tür. Auch der Fahrer scheint froh über ein wenig Gesellschaft zu sein. Je weiter der Bus sich die Windungen der Straße Richtung Küste entlangschiebt, desto dichter wird der Nebel. Ja, heute sei es schlecht mit der Aussicht, meint der Fahrer, das sei hier aber öfter so.
Der Nebel verdient inzwischen die Bezeichnung undurchdringlich. Nur einige Eichen ragen mit ihren kahlen, bizarr geformten, schwarz-grauen Ästen heraus. Auch sie kommen mir bekannt vor, weil Caspar David Friedrich sie auf vielen Gemälden als atmosphärische Vegetation einsetzt oder sie in ihrer stummen Vereinzelung gemalt hat.
Am Königsstuhl liegt die Sichtweite bei geschätzt 20 Metern. Es gibt hier heute nichts zu sehen, keine Ostsee, keine Kreidefelsen. Dafür ist es sehr still, und ich bin ganz allein. Eine Wanderin nicht über, sondern in einem Nebelmeer, den Kopf voll mit Bildern des Malers, der vor 250 Jahren am 5. September 1774 in Greifswald geboren wurde.
Ich bin hier in der Landschaft, die er zeitlebens als seine Heimat empfand. Ich bin gekommen, um etwas zu sehen und etwas wiederzuerkennen – und sehe nichts, weil um mich herum nur dichter Nebel ist. Das müsste Caspar David Friedrich sehr gefallen haben. Er schrieb:
"Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen."
Mit diesen Worten hat Caspar David Friedrich seine Arbeitsweise und die erwünschte Wirkung seiner Arbeiten zusammengefasst. Und dadurch erklärt sich auch, warum keine seiner Landschaften in einer Weise real ist, dass sie sich irgendwo draußen in der Natur wiederfinden ließe. Auch bei bester Sicht und ohne Nebel hätte ich vergeblich nach genau diesen Rügener Kreidefelsen gesucht, die Friedrich gemalt hat. Sie leuchten ewig über der blauen Ostsee.
Bei Johann Friedrich Quisdorp in Greifswald hat der junge Caspar David Friedrich seinen ersten Zeichenunterricht erhalten. Quisdorp wiederum war mit dem Dichter und Theologen Gotthard Ludwig Kosegarten befreundet, der in Altenkirchen auf Rügen am Cap Arkona amtierte. Pfarrer Kosegarten erkannte als einer der ersten das besondere Talent Friedrichs. Dass auch das Erleben der Natur eine Art Gottesdienst sein und zu einem Gotteserlebnis führen kann, davon war Kosegarten überzeugt. Mit seinen Uferpredigten am Cap Arkona beim Fischerdorf Vitt bemühte er sich, seine von den Ideen der Romantik geprägte Theologie auch praktisch an seine Gemeinde zu vermitteln.
Ich bin auch dort schon spazieren gegangen und war sehr skeptisch, ob Kosegarten seine Uferpredigten nicht doch mehr für sich als für seine Gemeinde gehalten hat. Seine naturromantischen Vorstellungen waren bestimmt nicht ohne Weiteres anschlussfähig für die Menschen, die auf dem rauen, windumtosten Cap Arkona recht karg in und von der Natur und dem Fischfang in der Ostsee lebten. Kosegarten verwirklichte vor allem das Ideal der Romantik, das Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, programmatisch so formuliert:
"Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es."
Die späteren Bilderfindungen Caspar David Friedrichs, seine Landschaften, Wälder, Berge und vor allem seine Darstellungen des Meeres sind davon durchdrungen, "dem Endlichen einen unendlichen Schein" zu geben. So wurden sie zur Illustration des romantischen Programms.
Dass in jedem Wald ein stilles, ernstes Wort geschrieben stehe, wie es der romantische Dichter Joseph von Eichendorff in seinem berühmten "Abschied vom Walde" schreibt, davon ist auch Caspar David Friedrich überzeugt. Ihm gelingt es, seine Landschaften als Seelenlandschaften zu malen, in denen stille, ernste Worte lesbar werden: Worte wie Einsamkeit und Vergänglichkeit, aber auch Worte wie Stille und Sehnsucht.
Aber die Epoche der Romantik ging vorbei. Caspar David Friedrichs Kunst war schon am Ende seines Lebens, in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr populär und geriet in Vergessenheit. Erst die große Jahrhundertausstellung deutscher Kunst von 1906 führte zu einer Wiederentdeckung seiner Werke. Hatte sich die eigentliche Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung verstanden, so wurden Caspar David Friedrichs Gemälde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Gegenbildern einer von Industrialisierung und Säkularisierung geprägten Moderne.
Die Worte Einsamkeit, Vergänglichkeit, Sehnsucht und Stille sprechen auch heute aus Friedrichs Gemälden. Und sie sprechen Menschen damit auf ihre unaufdringliche und zurückhaltende Art auf Lebensthemen an. Vor dem haltlos einsamen "Mönch am Meer" und der düsteren "Abtei im Eichwald" ist es unmöglich, nicht über die eigene Einsamkeit und Vergänglichkeit nachzudenken.
In der großen Berliner Caspar David Friedrich-Ausstellung hingen diese beiden Gemälde direkt nebeneinander. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hat sie 1810 gekauft und damit Caspar David Friedrichs künstlerischen Erfolg befördert. Im Flüstern der Audioguides stand ich gemeinsam mit vielen anderen Menschen davor. Einsam war es nicht und still auch nicht. Aber die Bilder schafften es trotzdem, meine Sehnsucht danach zu wecken. Und sogar die sonst so beunruhigenden Gedanken an die eigene Vergänglichkeit konnte ich vor diesen Bildern einmal ruhig vorbeiziehen lassen. Es gibt das alles, in jedem Leben. Es gehört dazu.
Im Dezember 1787 starb der zwölfjährige Johann Christoffer Friedrich in einem Wallgraben in Greifswald, nachdem er seinen ein Jahr älteren Bruder Caspar David vor dem Ertrinken gerettet hatte. Die Mutter der Jungen und ihrer acht Geschwister war schon 1781 gestorben. Diese frühen Erfahrungen von Verlust und Tod haben den Maler für sein weiteres Leben geprägt. Er konnte an ihnen nicht vorbeileben.
Seine Gemälde sind immer wie durchzogen von der kühlen Gewissheit, dass dieses Leben gefährdet und zerbrechlich ist. Ein Hauch von Vergänglichkeit und Tod weht mich aus ihnen an. Manchmal schroff und eiskalt wie bei dem berühmten "Eismeer", manchmal sanfter und gemildert zu einer leisen Melancholie. Sogar ein ganz mit dem Tod einverstandenes Bild hat Caspar David Friedrich gemalt, eines seiner letzten, bevor ihm 1835 ein Schlaganfall seine Malhand lähmte. "Die Lebensstufen" heißt es.
Das weite Meer dunkelt darauf, und Schiffe kommen nach und nach an einem Ufer an, die einen schon ganz nah, die anderen noch in weiter Ferne. Die Menschen auf diesem Bild stehen für verschiedene Lebensphasen, Kindheit, Erwachsensein, Alter. Es gibt ein Ufer, an dem wir einmal alle gemeinsam ankommen werden, nach und nach, so ruhig und gelassen, wie große Schiffe auf einen Hafen zusegeln. Diese Hoffnung malt Caspar David Friedrich sich und uns aus. Er hat einmal gedichtet:
"Um ewig einst zu leben / muss man sich oft dem Tod ergeben."
Das klingt nach dem Barockdichter Angelus Silesius, für den die Mystik, die Stille und Ergebenheit vor Gott den Mittelpunkt des christlichen Glaubens bildet und nach der er sucht. Silesius fordert auf:
"Mensch, werde wesentlich; denn wenn die Welt vergeht / So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht."
Vielleicht ist Caspar David Friedrich nicht nur ein Maler der Romantik, sondern viel mehr noch ein Maler der Mystik. Seine Bilder sind Andachtsbilder. Seine Landschaften lehren mich einen zweiten Blick. Sie führen mir meine Vergänglichkeit vor Augen. Sie lehren mich die Herausforderung, die darin besteht, mit sich selbst allein sein zu können.
Vor allem wecken sie in mir die Sehnsucht nach Stille. In meiner Welt des 21. Jahrhunderts, in der der Tod so weit wie möglich verdrängt wird, in der gefühlt alle um mich herum auf der Suche nach Beziehungen sind und niemand, auch ich nicht, nur ein paar Minuten an einer Bushaltestelle warten kann, ohne gleich aufs Handy zu schauen, in diese meine Welt hinein sprechen die Bilder von Caspar David Friedrich die großen Worte sanft und gelassen aus: Vergänglichkeit, Einsamkeit, Stille.
"So betet der fromme Mensch und redet kein Wort, und der Höchste vernimmt ihn; so malet der fühlende Künstler, und der fühlende Mensch versteht und erkennt es", hat Caspar David Friedrich einmal geschrieben. Im Februar bei Wind und Regen, ganz allein, im dichten Nebel an den Kreidefelsen von Rügen bin ich ihm wohl doch sehr nahe gekommen. Und in meinem Alltag in Berlin übe ich diesen zweiten, immer noch romantischen Blick, im Bekannten die Würde des Unbekannten, im Endlichen den Schein des Unendlichen zu erkennen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Felix Mendelssohn-Bartholdy, Abschied vom Walde op. 59/3
2. Robert Schumann, Mondnacht Liederkreis Op. 39/5
3. Robert Schumann, Mondnacht